RT DE hat mit dem italienischen Essayistenund Wissenschaftshistoriker Enzo Pennetta gesprochen. Nach seinem Biologie- und Pharmaziestudium, und neben seiner Tätigkeit als Naturwissenschaftler, hat Pennetta die Beziehung zwischen Wissenschaft und Macht in der Neuzeit erforscht. In einem Vortrag, der jüngst im Konferenzraum des italienischen Parlaments stattfand, zog Pennetta eine Verbindung zwischen Darwinismus und Liberalismus. Zu diesem Thema veröffentlichte er im Jahr 2011 sein Buch, "Inchiesta sul darwinismo", dessen zweite Ausgabe 2020 erschien.
Herr Pennetta, Sie bezeichnen das gegenwärtige politische System des Westens als eine "Phobokratie" – abgeleitet vom griechischen "Phobos", also Furcht bzw. panische Angst. Damit thematisieren Sie die Panikmache als Herrschaftssicherung in einem liberalen System, welche dann zu einem globalen Phänomen wurde. Wie kam dieses Phänomen zustande?
Die Idee, dass Panikmache eine zentrale Rolle in einem liberalen System spielen könnte, hatte in den frühen 1950ern als Erster der deutsch-amerikanische Philosoph Leo Strauss, damals Professor für Politische Philosophie an der Universität Chicago.
In Chicago gründete Strauss eine Denkschule, an der später auch prominente Persönlichkeiten wie Francis Fukuyama [Autor des 1992 erschienen Buches "Das Ende der Geschichte"] und Paul Wolfowitz [US Neokonservativer, politischer Berater von George Bush zur Zeiten des Irak Krieges (2003) und Präsident der Weltbank (2005 - 2007)] teilnahmen.
Laut Leo Strauss kann eine Gesellschaft wie die US-amerikanische, die auf Wettbewerb, Individualismus und Selbstsucht basiert, nicht auf einem gemeinsamen Ziel beruhen. Solch eine Gesellschaft muss auf Angst beruhen. Das einzige, was Menschen zusammenhalten kann, die von Selbstsucht und Konkurrenz getrieben werden, ist die Angst. Ein Krieg gegen etwas, was alle von außen bedroht.
Paul Wolfowitz, Donald Rumsfeld und Dick Cheney sind die bekanntesten Namen, die am Aufbau dieser Gesellschaft der Angst gearbeitet haben. Diese Geschichte reicht von der sowjetischen Bedrohung über die globale Erwärmung bis hin zu Epidemien.
Sie hinterfragen also eine Reihe von Schlüsselereignissen der jüngsten Zeitgeschichte. Stichwörter: die Gefahr einer nuklearen Konfrontation mit der UdSSR; die Massenvernichtungswaffen des Irak – die es nie gab; der islamistische Terrorismus; die Erderwärmung; die Corona-Pandemie.
Und darin sehen Sie einen roten Faden: die periodische Verbreitung von Angst. Dies sei sozusagen eine aus den USA stammende Angst-Politik. Fangen wir doch an mit dem "The Day After"-Szenario. Die Gefahr einer nuklearen Konfrontation mit der UdSSR war doch real, oder nicht?
Wir müssen in die 1970er zurückkehren – in die Zeit, in der Gerald Ford US-Präsident war [1974 bis 1977]. In der Ford-Administration finden wir bekannte Namen wie Paul Wolfowitz, Donald Rumsfeld und Dick Cheney. [Sie werden auch Teil der ersten Bush Jr. Administration von George W. Bush (2000-2004) zur Zeit des Irak-Krieges]. Es ist der Beginn der Neocon-Bewegung.
In Vergleich zu den frühen 1970ern macht die Ford-Administration deutliche Rückschritte in Bezug auf die Entspannungspolitik mit der Sowjetunion. Eine Politik, die in den frühen 1970ern zu der Unterzeichnung wichtiger Abrüstungsabkommen geführt hatte. Die Angst vor einem sowjetischen Angriff wird bei der Ford-Administration wieder geweckt.
Eine also unbegründete, kunstvoll geschaffene Angst?
Ende der 1970er wiesen alle CIA-Berichte darauf hin, dass eine damals in Schwierigkeiten geratene Sowjetunion absolut keine Bedrohung für die Vereinigten Staaten mit sich brachte. Und dennoch, oder gerade deshalb, propagierten diese Leute die Idee, dass die Sowjetunion dabei war, einen Angriff auf Amerika und den Westen vorzubereiten.
Das führte zu einer totalen Trendwende, die wir mit der ersten Reagan-Administration [1981-1985], mit seiner "Star Wars"-Initiative beobachteten. Und dadurch wird eine zwischen arm und reich gespalteten US-amerikanische Gesellschaft rund um eine wiederentdeckte äußere Gefahr gefestigt.
Dann ging der Kalte Krieg aber zu Ende – was tun ohne äußeren Feind?
Ein neuer Hitler musste sofort gefunden werden. Er hieß Saddam Hussein. Der nahöstliche Diktator, der uns alle bedrohte. Die Bedrohung, die von ihm für den Westen und den Rest der Welt ausgehen sollte, war absolut unwahrscheinlich. Diese wurde jedoch von allen als real akzeptiert. Wir erinnern uns alle an den Irak-Krieg, an die internationale Koalition.
Diese "Gefahr" [Anfang der 1990er] stellte den Wechsel des Ruders von der Sowjetunion zu etwas Neuem dar, das war aber offensichtlich nicht genug. Und 1997 finden wir Wolfowitz, Rumsfeld und Cheney bei der Gründung der Neocon-Denkfabrik Project for the New American Century (PNAC) wieder. Das Projekt sah die Vereinigten Staaten als Gendarm der Welt an. Es war die Rückkehr der Idee des Krieges als ein verbindender Faktor, der die Gesellschaft zusammenschweißen musss.
Die Denkfabrik Project for the New American Century ist bekannt für das im Jahr 2000 veröffentlichte Papier "Rebuilding America's Defenses", in dem es heißt, dass nur ein "neues Pearl Harbor" die militärischen und verteidigungspolitischen Transformationen ermöglichen könnte, die die Denkfabrik schnell durchführen wollte.Ein Jahr später kam tatsächlich mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ein "neues Pearl Harbor".
Und damit ergaben sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts die endlosen Kriege. Zum ersten Mal wird der Krieg nicht geführt, um gewonnen, sondern um verewigt zu werden. Krieg als ein permanentes Regierungsinstrument, wie es bereits George Orwell in seinem Buch "1984" beschrieben hatte.
Endlose Kriege, weil ihre Aufgabe nicht darin besteht, den Gegner zu besiegen, sondern einen Container für eine Gesellschaft zu schaffen, die sonst dazu neigen würde, sich aufzulösen.
Die Gefahr des Terrorismus reichte jedoch nicht aus. Diese war zu spezifisch, und es war zu einfach für den Einzelnen, sich vor dem Terrorismus zu retten, indem man vielleicht aufs Land floh oder an Orte, die keine Angriffsziele darstellen. Und da wuchsen andere Bedrohungen zusammen, denn je mehr externe Feinde es gibt, desto besser funktioniert der Mechanismus.
Was kommt also als nächstes?
Die Angst vor der globalen Erwärmung wird überdramatisiert. Die bestehenden Umweltprobleme, die es gibt, verwandeln sich in eine globale Bedrohung. Eine immaterielle Bedrohung – die Erderwärmung – die viel eindringlicher ist als der Terrorismus. Aber auch das ist eine Bedrohung, die nicht alle Menschen und Regionen auf der Welt gleichermaßen betrifft.
Und dann haben wir 2020 erreicht…
2020 ergibt sich mit der Corona-Pandemie eine noch effektivere Bedrohung. Eine, die uns alle betrifft, die unvermeidbar ist, weil sie uns alle bis in unsere Häuser erreichen kann. Es spielt dann keine Rolle, wo genau auf der Welt und in welchen sozialen Bedingungen man sich befindet. Das Virus ist die perfekte Bedrohung.
Eine Bedrohung, die weder arm noch reich noch gewisse Teile der Welt verschont, und die überall und jederzeit zuschlagen kann – anders als bei der Bedrohung durch Terrorismus oder der Erderwärmung.
Das Virus befindet sich in deinem Nachbar, in deinem Familienangehörigen und vielleicht in dir selbst, und in diesem Moment wirst du zu einer Gefahr für andere.
Ist dies die Endstation für die vom Soziologen Zygmunt Bauman skizierte, hyper-individualistische "flüssige Gesellschaft", in der dasIdeal eines solidarischen Gemeinwesens vom Wettbewerb vieler "Einzelkämpfer" abgelöst wurde?
Baumans "flüssige Gesellschaft" wird jetzt gasförmig. Schauen Sie sich die Leute an: erschreckt voneinander, misstrauisch untereinander, sich gegenseitig denunzierend. Das Virus ist die Waffe des perfekten Zerfalls.
Gleichzeitig versorgt das Virus diese gasförmige Gesellschaft mit einem Behälter, einem Stahlzylinder, der sie kompakt zusammenhält: die gemeinsame Gefahr, gegen die wir uns alle verteidigen müssen. Hier wird dann das ideale Instrument der Herrschaftssicherung geschaffen: Epidemien, die zyklisch aufeinander folgen könnten.
Experten und auch UN-Vertreter warnen ja bereits vor weiteren Pandemien in den kommenden Jahren…
Weil die Ängste müssen eindringlich, zyklisch und abwechselnd verbreiten werden. Neben unerträglichen Aspekten wie der sozialen Ungleichheit ist eine liberale Gesellschaft an sich unweigerlich eine Gesellschaft, in der man Angst haben soll.
Denn der liberale Staat befreit seine Bürger nicht von Ängsten. Er verbreitet die Angst. Weil die Angst ein Instrument der Herrschaftssicherung ist.
Vielen Dank für da Gespräch!
(Das Interview führte Daniele Pozzati)
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