Vier bis 9,5 Millionen Menschen sind in Deutschland fast immer oder immer einsam. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten im Auftrag des Sozialverbands Deutschland (SoVD). "Jeder fünfte Deutsche fühlt sich nicht mehr zugehörig", resümiert der Verband in einer Pressemitteilung vom 10. Dezember. Die ohnehin angespannte Situation in Deutschland werde durch die Corona-Maßnahmen und Kontaktbeschränkungen verschlimmert.
"Auf das gewohnte Sozialleben zu verzichten, die Enkel nicht besuchen zu können oder Bekannte nur noch am PC zu sehen, belastet die meisten Menschen zusehends. Gefühle von Einsamkeit machen sich gelegentlich auch bei Menschen, die davon zuvor nie befallen waren, breit. Das geforderte Social Distancing führt schnell in die soziale Isolation, denn Treffen mit Kolleginnen und Kollegen entfallen ebenso wie der Yogakurs, das Kaffeekränzchen in der Konditorei oder das Kinderturnen."
Die SoVD-Vizepräsidentin Ursula Engelen-Kefer macht deutlich, dass bereits vor der Corona-Krise "mehr als vier Millionen Menschen" in Deutschland "meist oder sehr oft einsam" waren. Innerhalb der deutschen Gesellschaft gäbe es eine "tiefe Spaltung" der Gesellschaft – soziale Isolation und Exklusion mehren sich zunehmend.
Die Corona-Krise wirke nun "wie ein Brennglas", das "langjährige Fehlentwicklungen unserer sozialen Sicherungssysteme" offenlege. Zwar seien von den Maßnahmen und Kontakteinschränkungen alle Gesellschaftsmitglieder betroffen, aber auf bestimmte "vulnerable Gruppen" wirken diese härter als auf andere:
"Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen, Pflegebedürftige, Arbeitslose und Armutsbetroffene, darunter viele Alleinerziehende, hatten und haben das Gefühl sozial ausgegrenzt und mit ihren Sorgen und Nöten allein zu sein."
Der Sozialverband zählt einige Faktoren auf, "die zur Einsamkeit beitragen":
- "Armut macht einsam und grenzt aus"
- "Pflegebedürftige und chronisch Kranke haben ein größeres Risiko, einsam oder sozial exkludiert zu sein"
- "Menschen mit Behinderung haben geringere gesellschaftliche Teilhabechancen. Dies führt zu Isolation und Exklusion"
- "Mobilitätseinschränkungen, nicht barrierefreier Zugang zu öffentlichen Einrichtungen und ÖPNV reduzieren die Teilhabechancen"
- "Eine weite Entfernung zu öffentlichen Einrichtungen, Parks oder Freizeitmöglichkeiten vergrößert das Einsamkeitsrisiko"
Zusammenhang von Corona-Maßnahmen und Einsamkeit
Der Sozialverband kommt zu einigen Resultaten über den Einfluss der Corona-Krise auf das Einsamkeitsbefinden:
- "Während der Corona-Pandemie haben Einsamkeitsgefühle im Vergleich zu 2017 erheblich zugenommen"
- "48 Prozent der Deutschen fühlten sich während des ersten Lockdowns zumindest gelegentlich einsam"
- "Über die Hälfte der StadtbewohnerInnen klagt über Einsamkeit. Bei BewohnerInnen ländlicher Räume sind es nur 41 Prozent"
- "Junge Erwachsene (unter 30-Jährige), Kinder und Alleinerziehende sind während der Corona-Pandemie überdurchschnittlich häufig von Einsamkeitsgefühlen geplagt"
- "Ein Drittel der Kindergartenkinder erlebte während des ersten Lockdowns ausgeprägte Einsamkeitsgefühle"
Die Autorin des Gutachtens und Leiterin des Fachgebiets Soziologie ländlicher Räume der Universitäten Göttingen und Kassel, Claudia Neu, betont vor allem die Auswirkungen von Kontakteinschränkungen auf Kinder und Jugendliche:
"Die Corona-Pandemie verschärft das Einsamkeitserleben nicht nur bei SeniorInnen, sondern gerade Kinder und Jugendliche leiden unter den Kontaktbeschränkungen. Geschlossene Kultureinrichtungen und soziale Orte wie Schwimmbäder, Vereinsheime oder Sportstadien erhöhen das Isolationsgefühl zusätzlich."
Junge Menschen, die im ländlichen Raum leben, leiden besonders unter den Auswirkungen der Isolation. Akut betroffen seien die Personen, "die von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen ausgeschlossen sind": "Einsamkeit und Isolation sind zudem auch ein Spiegel fehlender sozialer Orte und Gelegenheitsstrukturen, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten."
Handlungsorientierung des Sozialverbandes
Der Sozialverband Deutschland stellt sich nicht grundsätzlich gegen Corona-Maßnahmen und Kontakteinschränkungen. Sie empfehlen, "den Kontakt zu anderen Menschen außerhalb der eigenen Wohnung zu vermeiden", um "die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen". Aber sie warnen davor, einseitige Einschränkungen vorzunehmen – ohne die Folgen zu bedenken.
"In der Pandemie müssen Hygiene- und Schutzkonzepte bundesweit konsequent eingefordert, umgesetzt und kontrolliert werden, um besonders vulnerable Personengruppen vor einer Virus-Erkrankung zu schützen. Gleichzeitig müssen konkrete Maßnahmen greifen, die Vereinsamung und Isolation entgegenwirken."
Von der Feststellung ausgehend, "Einsamkeit ist von sozialen und wirtschaftlichen Faktoren abhängig", plädiert der Sozialverband für eine "inklusive, solidarische Gesellschaft, die niemanden zurücklässt" und für "eine umfassende Stärkung des deutschen Sozialstaats". Dazu benennt er sechs Forderungen als Eckpfeiler:
- "Daseinsvorsorge stärken"
- "Armut bekämpfen"
- "Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Alleinerziehende verbessern"
- "Kinder und Jugendliche besonders unterstützen"
- "Prävention und Rehabilitation ausbauen"
- "Digitalisierung vorantreiben"
Da das Gutachten deutlich mache, "dass das Vorhandensein bzw. die Nähe zu daseinsvorsorgender Infrastruktur darüber entscheiden kann, ob sich Menschen sozial isoliert oder zugehörig fühlen", sei es notwendig, "strukturelle Defizite" zu beheben. Öffentlichen Begegnungsorten komme eine entscheidende Rolle zu:
- "öffentliche und kostenfreie Bibliotheken und Schwimmbäder"
- "Krankenhäuser oder Ärztehäuser in ländlichen Regionen"
- "innovative Ideen für Kultureinrichtungen, Quartiersläden oder Treffs in Cafés, insbesondere im ländlichen Raum"
"Die Länder und Kommunen müssen dabei in die Lage versetzt werden, notwendige Maßnahmen und Investitionen auch tätigen zu können. Der Bund muss die Länder und Kommunen dabei unterstützen, die Aufgaben der Daseinsvorsorge erfüllen zu können, auch finanziell."
Quellen: Das Gutachten in voller Länge und als Zusammenfassung
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