"Der Arzt sollte kein Kleinunternehmer sein": Interview mit Sozialmediziner Niemann – Teil 2

Angesichts der COVID-19-Pandemie rückt die Debatte um verschiedene gesundheitspolitische Alternativen in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Wir sprachen mit dem Sozialmediziner Dr. Heinrich Niemann über die Gesundheitspolitik und die Pandemie-Maßnahmen in DDR und BRD.

Unser Interviewpartner ist Dr. med. Heinrich Niemann (75), Studium an der Berliner Charité, Facharzt für Sozialmedizin, gesundheitspolitische Arbeit in Ostberlin, 1986 bis 1990 Geschäftsführer der DDR-Sektion der Internationalen Ärzte zur Verhütung eines Nuklearkrieges (IPPNW), 1992 bis 2006 gewählter Bezirksstadtrat in Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf, bis 2001 für Gesundheit, in dieser Zeit Vorsitzender der Krankenhauskonferenz des Krankenhauses Kaulsdorf. Das Gespräch führte Hasan Posdnjakow.

Was sind Ihrer Meinung nach die strukturellen Schwachpunkte des öffentlichen Gesundheitssystems der Bundesrepublik Deutschland allgemein (also auch unabhängig von der Corona-Epidemie)?

Wenn wir unter "öffentliches Gesundheitssystem" das Gesundheitswesen der BRD im Ganzen fassen, kann man diese Schwachpunkte so zusammenfassen:

Es gäbe weitere, aber diesen Rahmen sprengende Stichworte.

Oft wird einer solchen Kritikliste gegenübergestellt, dass doch das Gesundheitssystem im internationalen Vergleich einen guten Platz einnimmt. Ja, in der BRD erfolgt die medizinische Betreuung auf sehr vielen Gebieten auf hohem Niveau. Auch die soziale Absicherung im Falle von Krankheit ist durch das Versicherungssystem insgesamt gut gewährleistet.

Aber gerade deshalb fallen die unbezweifelbaren Schwächen und Lücken so ins Gewicht. Sie sind eigentlich durch nichts zu rechtfertigen und müssen benannt und überwunden werden. Dabei fällt mir auf, dass in der letzten Zeit medizinische Gesellschaften und Ärzte in hohen Berufspositionen, also aus der "etablierten" Medizin selbst, zunehmend scharfe öffentliche Kritik an diesen skizzierten Mängeln üben.

Dass im Grundgesetz unseres Landes die Worte Gesundheit oder Krankheit bisher überhaupt nicht vorkommen – entgegen den Positionen der UNO-Menschenrechtskonvention oder anderer internationaler Erklärungen – wäre ein Thema für sich.

Welche Hauptfehler wurden aus Ihrer Sicht von den Verantwortlichen der Landes- und Bundespolitik in Deutschland im Kampf gegen die Corona-Epidemie begangen?

Trotz Mängeln und auch Fehlern bei der anfänglichen Umstellung unseres Landes auf die Pandemie gehört die Bundesrepublik doch zu den wenigen Staaten, denen es bald gelungen ist, die Kontrolle über die Pandemie Schritt für Schritt zu erlangen. Das muss man würdigen. Es rettete viele Menschenleben.

Besonders ist es gut gelungen, schnell ausreichende Kapazitäten an Betten und medizinischen Geräten für schwer und lebensgefährlich Erkrankte bereitzustellen. Der öffentliche Gesundheitsdienst konnte, auch unter Zurückstellung anderer wichtiger Aufgaben und mit Hilfe anderer Verwaltungsmitarbeiterinnen, die schnelle Nachverfolgung von Infektketten realisieren. Die notwendigen und anfangs heftigen Kontaktverbote und -einschränkungen wurden von der überwiegenden Bürgerschaft einsichtsvoll befolgt. Das Meldesystem erlaubte einen zunehmend besseren Überblick über die epidemiologische Entwicklung in allen Bundesländern und Landkreisen. So konnte letztlich die Zahl der Todesfälle bisher vergleichsweise sehr gering gehalten werden.

Als Fehler muss benannt werden, dass sich auch die Bundesrepublik nicht oder viel zu wenig mit den schon seit 2012 vorliegenden Szenarien möglicher Pandemien befasst und daraus keine praktischen Schlussfolgerungen gezogen wurden. (Von dem nicht verjährbaren, wie sich zeigt, Know-how der DDR und ihren nach 1990 geschlossenen Instituten ganz zu schweigen). Es fehlte offensichtlich ein gesetzgeberischer Vorlauf, wie in einer solchen Situation zu reagieren ist. Das gilt auch, obwohl sich die Bundesregierung und die einzelnen Bundesländer zu einem insgesamt sinnhaften und effektiven abgestimmten Handeln zusammengefunden haben.

Sehr diskutabel sind aus epidemiologischer Sicht die anfänglich veröffentlichten Statistiken. Mit ihnen waren die tatsächlichen Entwicklungen von Inzidenz, Morbidität, Sterblichkeit, territorialer und sektoraler Verbreitung, tatsächlich klinisch Erkrankter und pathologischer Erkenntnisse nur schwer zu erkennen. Dabei gerieten zeitweilig das tatsächliche Corona-Erkrankungsrisiko und seine notwendige Einordnung in das gesamte Krankheitsgeschehen aus dem Blick. Die lange Weigerung, gezielt und systematisch zu testen, war nur anfangs begründbar mit den knappen Kapazitäten. Dunkelziffern sind nicht gut und nicht mehr zu rechtfertigen. Es ist doch z. B. wichtig zu wissen, ob eine Infektion nur bei etwa einem halben Prozent oder bei fünf Prozent der Infizierten zum Tode führen kann.

Dass die medizinische Expertise bis heute in der medialen Öffentlichkeit vorrangig der Virologie vorbehalten bleibt, ist auch diskutabel. Eine Epidemie oder eine Pandemie zu bekämpfen, folgt wichtigen, schon lange angewendeten Regeln. Solche Regeln finden sich auch in der sogenannten Katastrophenmedizin wieder. Es ist medizinisches Know-how von zahlreichen Fachdisziplinen erforderlich und umzusetzen. Die sachgerechte Durchsetzung von Hygienestandards etwa ist Aufgabe von Hygieneärzten. So ist eine gute Krankenhaushygiene auch vor Corona in Deutschland schon länger ein kritisches Thema. Der klinische Arzt ist ebenso gefragt wie der Notfallmediziner, der Kinderarzt oder auch der Sozial- oder Arbeitsmediziner.

Auf die strukturellen und organisatorischen Schwierigkeiten infolge der unterschiedlichen Eigentumsverhältnisse an Gesundheitseinrichtungen und auch der tausenden Pflegeeinrichtungen sei nur verwiesen, auch auf die Tatsache, dass in manchen Krankenhäusern sinnvolle Tests der Mitarbeiter aus finanziellen Gründen nicht gemacht wurden. So stieß etwa die klare Frage, wer verantwortlich für Schutzkleidung und medizinische Masken ist, auf eine heftige, zeitraubende Zuständigkeitsdebatte zwischen Behörden, Kassenärztlichen Vereinigungen und Leitungen von Krankenhäusern. Die Beschaffung und Vorhaltung solcher wichtigen Sachen war im Vorfeld nicht geklärt worden.

Welche Reformen sind aus Ihrer Sicht nötig, um erstens das Gesundheitssystem der BRD allgemein und zweitens speziell die Fähigkeit zur Seuchenbekämpfung zu verbessern?

Meine Antwort liegt zum großen Teil schon in meinen bisherigen Aussagen und ist deshalb kurz:

Es wäre ein großer Fortschritt, wenn es endlich eine ernsthafte Debatte in den Parteien, im Gesundheitswesen selbst und in der Öffentlichkeit gäbe, in der ein Reformbedarf akzeptiert und erörtert würde. Die Erkenntnisse aus der Corona-Pandemie sind dafür gut geeignet. Man darf nicht zur Tagesordnung übergehen.

Es gibt die Ebene einer grundsätzlich anderen Struktur des Gesundheitswesens, die an die Eigentumsfrage herangeht und den öffentlichen, gemeinnützigen Charakter dieses Teils der Daseinsvorsorge "Schutz der Gesundheit" zum Gegenstand hat. Ein anderes, nicht dem Profit unterworfenes Gesundheitswesen ist ja ordnungspolitisch zulässig und möglich, berührt nicht die gegenwärtige Staats- und Gesellschaftsordnung.  Es sei denn, man wollte auch die Feuerwehr oder die Schule künftig nach Gewinnerträgen finanzieren.

Darunter gibt es eine pragmatische Ebene, die zwingend schnelle Veränderungen fordern muss. Hier hoffe ich auch auf das öffentliche Gewicht nicht nur der Forderungen der Ärzteschaft, endlich die Fallpauschale und Abrechnungsmethoden in der ambulanten Medizin zu korrigieren. Der Öffentliche Gesundheitsdienst muss mit ausreichend vielen Ärzten und anderem Fachpersonal gestärkt werden.

Dass die rechtlichen, medizinischen und strukturellen Lehren für das künftige zweckmäßige Handeln von Regierungen, Staat und Gesellschaft bei einer Pandemie oder Epidemie gezogen werden müssen, erscheint selbstverständlich.

Ein sehr wichtiges Feld ist der Aufbau einer besseren, zielorientierten europäischen Zusammenarbeit in der Bekämpfung von Pandemien.

Und die Bundesrepublik sollte mit ihrem medizinischen, wissenschaftlichen und politischen Potenzial und auch finanziell eine handlungsfähige Weltgesundheitsorganisation als zwingend gebrauchte internationale Autorität in Gesundheitsfragen stärker fördern und unterstützen.

Vielen Dank für das Interview!