Rote Karte für Krieg und Nationalismus: Warum die Ukraine Poroschenko abwählt

Der stramm prowestliche Präsident Petro Poroschenko hat kaum Chancen auf eine Wiederwahl. Besonders niederschmetternd waren für ihn die Wahlergebnisse im Süden und Osten des Landes. In seinem Wahlkampf setzte er auf Nationalismus und Hass auf Russland.

von Wladislaw Sankin

Petro Poroschenko konnte die Wahl im Mai 2014 mit großem Vorsprung auf seine Mitbewerber bereits in der ersten Wahlrunde für sich entscheiden. Die Hoffnung auf einen Neuanfang war damals in weiten Teilen des Landes echt. "Leben auf neue Art" war damals das Wahlkampfmotto von Poroschenko.

Mindestens ein Drittel der Bürger hatte jedoch den gewaltsamen Staatsstreich, infolgedessen der amtierende Präsident Wiktor Janukowitsch abgesetzt wurde, nicht akzeptiert. Im russisch geprägten Südosten des Landes gab es Proteste und Rufe nach einer Föderalisierung des Landes.

Die neuen Machthaber ließen die Lage durch Mobilisierung der nationalistischen Paramilitärs und der Armee eskalieren. Bereits während der Präsidentschaftskampagne wurde schon heftig gekämpft. Poroschenko versprach, den wenige Wochen zuvor begonnenen Krieg zu beenden.

Aber nach seiner Wahl setze er noch mehr auf Gewalt. Nur wenige Tage nach der Wahl, am 2. Juni, bombardierten ukrainische Kampfjets das Zentrum der Stadt Lugansk und töteten acht Menschen, darunter fünf Frauen. Auch danach gab es immer wieder Angriffe aus der Luft, was die Aufständischen zum Einsatz von Luftabwehrtechnik bewegte. Mit diesem Luftkrieg beschritt der neugewählte Präsident einen Weg, der zum bislang nicht aufgeklärten Absturz von Malaysia-Airlines-Flug MH17 mit fast 300 Passagieren führen sollte.  

Bei fast jedem seiner Auftritte betonte Poroschenko, wie wichtig sei es, dass die Ukraine sich dem Westen öffne und Russland den Rücken kehre. Dies sei ein Schritt historischen Ausmaßes, betonte er in seinen Reden und kündigte jedes Mal aufs Neue den "endgültigen Abschied" vom "russischen Imperium" an. Er ließ das Parlament die Mitgliedschaft in EU und NATO als strategisches Ziel der Ukraine in die Verfassung aufnehmen.

Die Westbindung wurde jedoch nicht zum Allheilmittel für die Probleme des Landes. Im Gegenteil, neoliberale Reformen und die Schwächung der Wirtschaftsbeziehungen zu Russland während seiner kompletten, fast fünfjährigen Amtsperiode führten zu einer dramatischen Verschlechterung der sozioökonomischen Lage der einfachen Bürger, die Abwanderung von Arbeitskräften setzte sich in bedrohlichem Maße fort. Auch die Korruption wurde keineswegs besiegt. Positiv entwickelt haben sich nur die Einkünfte des Milliardärs Poroschenko.

Schnell wurde er unpopulär. Je schlechter die Umfragewerte Poroschenkos waren, desto repressiver wurde er in der Innenpolitik. Geheimdienst und militante Nationalisten schüchterten Kritiker ein. In einem Land, in dem die Hälfte der Bürger Russisch spricht und die Zweisprachigkeit zum Alltag gehört, setzte Poroschenko auf die totale Ukrainisierung. 

Mit einem Bildungsgesetz veranlasste er die baldige Schließung der wenigen verbliebenen russischen Schulen. Russische Bücher, Medien und soziale Netzwerke wurden verboten. Orte und Straßen wurden umbenannt, die Geschichte im nationalistischen Geiste umgeschrieben, Nazi-Kollaborateure mit Veteranen des Krieges gleichgesetzt.

Mit dieser Politik machte Petro Poroschenko auch Wahlkampf für eine zweite Amtsperiode. "Armee, Sprache, Glaube" hieß diesmal das Wahlkampfmotto. Im Januar bewirkte er die Anerkennung (griech. Tomos) der schismatischen ukrainischen Kirche durch den Patriarchen von Konstantinopel. Sie hat sich im Jahr 1991 von der kanonischen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche abgespalten.

Er betonte, die Befreiung der Ukraine von den Zwängen der russischen "Kulturokkupation" sei damit besiegelt. Doch die Vergabe des Tomos stieß trotz enormer PR-Offensive auf starke Kritik. Kaum jemand aus den Reihen der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats lief zur neuen "Kirche" über. Auch die Weltorthodoxie hat den Schritt nicht akzeptiert. Überfälle auf Priester und Gläubige vonseiten nationalistischer Schläger nahmen dabei zu. 

Die Wahlergebnisse zeigen: Je mehr Poroschenko auf Spaltung setzte, desto unpopulärer wurde er im ganzen Land. Sein Wahlergebnis ist seit 1991 das schlechteste Ergebnis eines Bewerbers, der es damit doch noch in die Stichwahl geschafft hat. Er unterlag dem Komiker und Schauspieler Wladimir Selenskij mit fast 15 Prozent Rückstand.

In der ersten Wahlrunde gewann er nur in Galizien – in den drei westlichen Gebieten Lwow, Iwano-Frankowsk und Ternopol. Sie gehörten lange zu Österreich-Ungarn und gelten als Brutstätte der faschistischen Bandera-Ideologie. Mit seiner Russophobie, die de facto zur Staatsideologie wurde, ließ Petro Poroschenko seine Wählerbasis nur auf die ultranationalistische Minderheit mit Hochburg in Lwow schrumpfen und stieß die Wahler in anderen Landesteilen ab, vor allem im Süden und Osten.

Es ist allerdings bei Weitem nicht so, dass die anderen Präsidentschaftskandidaten die Westbindung anzweifeln und sich für gute Kontakte zu Russland aussprechen. Julia Timoschenko, die 13 Prozent der Stimmen bekam, unterschied sich in Grundsatzfragen kaum von Poroschenko. Aber es ist auch gefährlich, in der Ukraine solche Ideen öffentlich auszusprechen.

Nach seiner Stippvisite in Moskau kurz vor den Wahlen wurde dem Präsidentschaftskandidaten Juri Bojko Strafverfolgung angedroht. Nach dem Skandal strich das Innenminsierium auch alle Sonderflüge nach Moskau, um Reisen von Politikern nach Russland künftig zu verhindern. Nichtdestotrotz erhielten zwei Kandidaten der Opposition – Juri Bojko und Alexander Wilkul – zusammen fast 16 Prozent. Sie wollen, dass das Land neutral bleibt und der Handel und die Zusammenarbeit mit Russland wieder aufgenommen wird. 

Sie haben ihre Wählerbasis im russischsprachigen, industriell geprägten Südosten des Landes und hätten bei einer Vereinigung ihrer Stimmenanteile das gleiche Ergebnis wie Poroschenko erzielt. Im Osten bekam Bojko fast 30 Prozent der Stimmen – das Dreifache von Poroschenko.

Damit hat der prorussische Teil der Ukraine die ersten Lebenszeichen nach seiner politischen Niederlage im Jahr des Maidan gesendet. Die Wahlbeteiligung war diesmal zum ersten Mal im Süden und Osten höher als im Westen. Bei allen Wahlen in der Ukraine konnten die Wähler im Westen bislang stärker mobilisiert werden.

Der russischsprachige Schauspieler und Politik-Neuling Wladimir Selenskij, der aus dem Süden stammt, punktete auch vor allem in dieser Region. Er hatte die jüngere, städtische Wählerschaft auf seiner Seite. Er unterstützte zwar seinerzeit den Militäreinsatz gegen die Aufständischen im Osten des Landes, die er im Sommer 2014 als "Abschaum" bezeichnete, sprach sich während der Wahlkampagne aber in mehreren Interviews für die Fortsetzung der Verhandlungen mit Russland über das Schicksal der Region aus. Russland besteht auf der Umsetzung der Minsker Abkommen, die Autonomierechte für Donezk und Lugansk vorsehen.  

Das "Erwachen" der russisch geprägten Ukraine ist auch westlichen Beobachtern nicht entgangen. Eine der gängigsten Formeln in der westlichen Berichterstattung über die Ukraine nach dem Maidan war die Behauptung, dass die "Revolution der Würde" eine neue, vereinte ukrainische Nation hervorgebracht habe. Doch diese Wahlen zeigen, dass dieses Narrativ Wunschdenken ist.

"Viele im Westen wollen glauben, dass die Ukraine ihre alten Gewohnheiten aufgegeben hat und nun in ihrem Wunsch vereint ist, sich von Russlands Einfluss zu befreien", schreibt die Washington Post. Die Zeitung stellt fest, dass dies bei Weitem nicht der Fall ist. Die "traurige Realität" sei die Fortexistenz zweier gespaltener "Nationen" in einem Land.

Die Wahlergebnisse zeigen, dass immer mehr Ukrainer ein Ende der russophoben Politik wollen. Das zeigen auch die Umfragen, wonach immer mehr Menschen sich für die Verbesserung der Beziehungen zu Russland aussprechen. Das erste Verbot der Putschregierung im Frühjahr 2014 – das Verbot der russischen Medien – wird mittlerweile nur noch von einem Drittel der Ukrainer gerechtfertigt. Über 50 Prozent der Bürger sind für die Aufhebung dieses Verbotes.

Die Einstellung zum Militäreinsatz im Osten hat sich auch geändert. Die Mehrheit will, dass der Krieg so schnell wie möglich beendet wird. Dafür ist die Hälfte der Bürger bereit, den Forderungen der sogenannten "Separatisten" in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk nach Autonomie zumindest teilweise zu entsprechen. Rund ein Fünftel will sogar alle ihre Forderungen erfüllen, eigene Volkspolizei inklusive.  

All das zeigt, dass der "Südosten" nicht verschwunden ist. Vor allem in dieser Region wurde dem "Präsidenten des Krieges" klar die rote Karte gezeigt. Aber auch in anderen Teilen des Landes ist sein Ansehen deutlich angekratzt. Dabei hat er kaum Chancen, den Rückstand von 15 Prozent gegenüber Selenskij aufzuholen. Im Gegenteil: Die Stichwahl könnte Poroschenko mit noch größerem Rückstand verlieren.

Viele Experten in der Ukraine halten es für weitaus wahrscheinlicher, dass die Wähler anderer Kandidaten gegen Poroschenko stimmen werden. Insbesondere die Wähler von Julia Timischenko (13 Prozent), Juri Bojko (11,7 Prozent), Anatolij Grizenko (acht Prozent) und Alexander Wilkul (4,1) werden viel eher für Selenskij stimmen als für den amtierenden Präsidenten.

Am Mittwoch entschloss sich der Wahlkampfstab von Wladimir Selenskij zu einem unkonventionellen Schritt: In einer Videobotschaft forderte der 41-jährige Kandidat den amtierenden Präsidenten zu einem TV-Duell im größten Stadion des Landes heraus. Vor 70.000 Zuschauern soll dieses ausgetragen werden.

Poroschenko sagte am gleichen Tag zu, ebenfalls in einem Video. Begeistert sah er dabei nicht aus. Er ging auch auf die demütigende Forderung ein, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, um möglichen Drogenkonsum auszuschließen. Mit dieser Zusage unter Zugzwang demonstrierte er, dass er in der Ukraine schon nicht mehr wirklich Präsident ist.