von Wladislaw Sankin
Ein kräftiger, stämmiger Mann Anfang 40 sitzt vor Dutzenden Kameras, umgeben von Journalisten. Neben ihm am Tisch sitzt eine Moderatorin. Noch eine Minute zuvor kennt ihn kaum jemand. Nach nur einer Stunde wird er das größte Thema des Tages in den russischen Medien sein. Er stellt sich vor:
"Guten Tag, meine Damen und Herren, ich heiße Wassili Nikolajewitsch Prosorow und war von 1999 bis 2018 Mitarbeiter des ukrainischen Sicherheitsdienstes", beginnt er seine Erzählung, die genau eine halbe Stunde lang dauert. Noch eine weitere halbe Stunde beantwortet er Fragen. Drei Minuten dauert sein Appell an die Kollegen in der Ukraine. Sein Auftritt wird im Internet von vielen russischen Kanälen live übertragen.
Prosorow ist ein freiwilliger Doppelagent, der seinen Einsatz mitten im Kriegsgebiet in der Ostukraine für ein höheres Ziel nutzte – zum Sturz des aus seiner Sicht nationalistisch gesinnten Putschisten-Regimes, das nach dem Maidan im Februar 2014 in der Ukraine die Herrschaft erlangte. Sein Eid galt der anderen Ukraine, dem Staat vor dem Putsch, erklärt er. Vom ersten Tag seines Einsatzes an hat er seine Kollegen und Vorgesetzten ausgespäht und belastende Dokumente gesammelt, um diese eines Tages ans Licht zu bringen, als Beweis für die Verbrechen des neuen Regimes gegenüber Zivilisten und Aufständischen in der Ostukraine.
Nun hat er das getan und verspricht, ein Buch darüber zu schreiben, in dem er viel mehr preisgeben will. Er hat im Kriegsgebiet die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen ukrainischen Sicherheitsstrukturen in der "Antiterrorzentrale" des SBU (Sicherheitdienst der Ukraine) koordiniert und viele Informationen gesammelt.
Sein Auftritt im Studio von Rossija Sewodnja findet um die Mittagszeit statt, danach beginnen im russischen Fernsehen die Polit-Talks, anschließend abendliche TV-Shows. Wie sonst auch sind an diesem Tag in den Sendungen zahlreiche Exil-Ukrainer zu sehen. Ihre Augen strahlen: "Wir haben immer gewusst, was er sagt." Sie fühlen sich bestätigt.
Für den SBU, den ukrainischen Sicherheitsdienst, sind die Enthüllungen hingegen das schlechteste "Geschenk", das man sich zu einem Geburtstag vorstellen kann. Am 25. März feierte die Behörde ihren 27. Jahrestag. Sie ist nur wenige Monate nach der Auflösung der Sowjetunion entstanden.
Die Vorwürfe gegen sie und die ukrainische Militärführung wiegen schwer – und sie sind nicht neu. Ein Haufen Schurken habe im Februar die Macht an sich gerissen. "Sie schreckten nicht davor zurück, für den Machterhalt und zur eigenen Bereicherung einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung zu entfesseln", sagt Prosorow und erzählt detailliert, mit welchen gesetzwidrigen Dokumenten sich die Militärführung im April 2014 Befugnisse erteilt hat, um gegen die Aufständischen im Donbass vorzugehen.
Sie besetzten mehrere Verwaltungsgebäude und umzingelten diese mit improvisierten Barrikaden. In der gleichen Art und Weise, wie schon wenige Monate zuvor in der Westukraine, als Janukowitsch noch Präsident gewesen war. Kurz zuvor riefen sie die Papierstaaten, die Volksrepubliken von Donezk und Lugansk aus. Doch, die Besatzer der Maidan-Zeit, die ganze Waffendepots geplündert hatten, sind von jeglicher Strafverfolgung freigestellt. Die Besetzer aus der Ostukraine wurden vom SBU kriminalisiert und für die Strafverfolgung oder Liquidierung freigegeben.
Die Ostukrainer reagierten auf die drohende Abschaffung des Sprachgesetzes – die letzte Hürde vor einer Zwangsukrainisierung –, die Willkür und das Treiben der Nationalisten auf den Straßen. Sie forderten Autonomie oder eine Abspaltung. Nur wenige Wochen zuvor hatte damals das Krim-Referendum stattgefunden, wonach die autonome Republik Krim der Russischen Föderation beitrat.
Doch in der Ostukraine war – im Unterschied zur Krim und zu Sewastopol – kein einziger russischer Soldat stationiert. Die Rebellen waren auf sich gestellt. Die neuen Machthaber entschlossen sich, die Armee und schwere Waffen gegen die Aufständischen einzusetzen.
Prosorow beschreibt genau, am welchem Tag dieser gesetzwidrige Einsatz begann, nämlich am 7. April 2014 mit dem Beginn der sogenannten Anti-Terror-Operation in den drei ostukrainischen Gebieten Charkow, Donezk und Lugansk. Er sagt, dass solche Operationen im Landesinneren nur dann zulässig sind, wenn ein Objekt des Verteidigungsministeriums zum Ziel eines Terroranschlags wurde. Dieser Grund lag nicht vor.
Doch den Planern vom SBU und den Streitkräften ging es von Anfang an darum, das Autonomiebestreben mit militärischer Gewalt niederzuwalzen. Die Aktivisten wurden zu "Terroristen" erklärt, die Bevölkerung zu "Handlangern der Terroristen". Diese juristische und rhetorische "Justierung" hat laut Prosorow einen Krieg ermöglicht, dem bislang über 3.000 Zivilisten zum Opfer fielen – hauptsächlich infolge der Raketenbeschüsse im Gebiet der Aufständischen. Mit Militärangehörigen auf beiden Seiten sind nach vorsichtigsten Schätzungen um die 11.000 Menschen im Zuge der Auseinandersetzungen in der Ostukraine ums Leben gekommen.
Es folgten der 2. Mai in Odessa, die Erschießung von Demonstranten am 9. Mai in Mariupol, Bombardements eines Familienstrandes mit Streubomben am 13. August in Sugres, wobei 19 Menschen, darunter auch Kinder, starben und vieles mehr. Nach diesen Tagen wollte er sich der Volkswehr anschließen, erzählt Prosorow. Aber er hielt sich zurück, denn sein Widerstand war die Aufklärung.
Der Ex-Oberleutnant macht deutlich, wie sich ukrainische Sicherheitsorgane nach dem Putsch neu formiert hätten – die Loyalität der Polizisten, des Militärs, der Geheimdienstler zu den neuen Machthabern in Kiew war für diese eine große Unbekannte. Gegen viele wurde ermittelt, andere wurden im Zuge der Lustration entlassen. Andere wiederum mussten fliehen oder gingen in den Widerstand.
Die alten "Silowiki"-Sicherheitskräfte wurden durch "engagierte Bürger" aus dem nationalistisch-patriotischen Lager gestärkt, die den Kern der neuen Nationalgarde und der nationalistischen freiwilligen Bataillone bilden. "Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, die ihnen unterstellt werden – Totschlag, Folter, Plünderung – sind wahr", sagt Prosorow.
Nach seiner Ansicht erklärt sich dieses Gebaren eines "Okkupanten" damit, dass viele Mitglieder dieser Formationen eine neonazistische Gesinnung pflegen – im Kleidungsstil, in den Gesten, Grußformeln oder den Zimmereinrichtungen in den Kasernen stellte er z. B. bei den Bataillonen "Asow" und "Aidar" häufig direkte Reminiszenzen an Nazismus fest. Dieser Trend sei auch bei den regularen Streitkräften und im SBU immer mehr bemerkbar.
Nach einer Weile passte sich der Großteil der "Silowiki" an die neuen Verhältnisse also an, darunter auch Oberleutnant Wassili Burba. Als SBU-Offizier nahm er an der Räumung der Maidan-Proteste Anfang 2014 teil. Ihm droht eine Haftstrafe. Prosorow nennt seinen Namen in Zusammenhang mit der Frage nach einer möglichen Verwicklung der Ukraine in die Boeing-Tragödie des Fluges MH17 am 17. Juli 2014, die 298 Menschen das Leben kostete. Nach nur vier Jahren wurde Burba nach seinem Einsatz im Kriegsgebiet zum General-Oberst und Leiter der Hauptabteilung des Verteidigungsministeriums befördert. Prosorow vermutet, dass dieser "fantastische Aufstieg" mit heiklen Aufgaben in Zusammenhang mit dem mutmaßlichem Boeing-Abschuss oder der Spurenverwischung zusammenhängt.
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Der ehemalige SBU-Mitarbeiter gibt sich Mühe, genau zu bleiben. Er nennt Daten, Namen, Einrichtungen, er zeigt Dokumente, beschreibt die Struktur der ukrainischen Geheimdienste. So gehört eine fünfte Abteilung zum SBU. Angehörige dieser Abteilung machen ihre Fortbildung im Ausland. US-amerikanische und britische Instrukteure bringen ihnen bei, wie man Terror- und Sabotageakte durchführt und Partisanenkämpfe organisiert. Diese Abteilung sei wie ein innerer Spezialdienst. Die fünfte Abteilung wird direkt vom Poroschenko-Amt kontrolliert. Gezielte Tötungen von Politikern und charismatischen Kommandeuren unter den Rebellen der Volkswehr sei deren Handwerk, so Prosorow.
Deren Liquidierung ist Resultat der Handlungen der ukrainischen Spezialkräfte. Der Gedanke, dass ihre Tötung den inneren Streitigkeiten unter den Aufständischen geschuldet ist, wird durch Einheiten für informations-psychologische Operationen des SBU und Streitkräften in der Bevölkerung eingestreut. Eines dieser Programme ist die Operation 'Spinnen im Netz', die Sicherheitsorgane der Volksrepubliken diskreditieren soll.
Tödliche Panne als "Anschlag"
Exemplarisch nennt er einen Vorfall, für dessen Aufklärung er selbst zuständig war. Am 28. Juni 2017 detonierte im Bezirk Konstantinowka, 40 Kilometer von der Trennungslinie entfernt, ein Auto mit vier Personen. Einer der Insassen war tot, die restlichen wurden verletzt. Drei der Insassen waren SBU-Mitarbeiter. Die ukrainischen Medien beschuldigten sofort die Donezker Volksrepublik, für den Anschlag verantwortlich zu sein. In Wirklichkeit war es genau andersherum – die vierte Person war ein vorbestrafter Einwohner von Donezk, dem als künftiger Diversant der Umgang mit einer Bombe beigebracht worden war. Prosorow wurde befohlen, den Fall schnell zu "vergessen". Die offizielle ukrainische Version bleibt nach wie vor die alte – die drei SBU-Mitarbeiter seien Opfer der "Donezker-Terroristen".
Bei der Planung und Durchführung der Terror- und Sabotageakte arbeitet der SBU eng mit den Spezialkräften SSO (ССО) der ukrainischen Streitkräfte zusammen. Der tödliche Anschlag auf den Chef der Lungansker Volkspolizei, Oleg Anaschtschenko, am 4. Februar 2017 führte unmittelbar zum ukrainischen Militär. Die Täter wurden in Lugansk gefasst. Bei der Konferenz nennt Prosorow weitere Personen, die zu den nächsten Zielscheiben der Anschläge werden könnten. "Die Liste der in diese terroristische Aktivitäten verwickelten Personen ist lang", sagt Prosorow und nennt eine Reihe hoher Offiziere der ukrainischen Streitkräfte, darunter den kurzzeitigen Präsidentschaftskandidaten der diesjährigen Wahlen, Sergei Kriwonos (hier in einem BBC-Portrait).
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300 "Bücher" in der "Bibliothek"
Prosorow liefert auch Belege für die Existenz der sogenannten geheimen Gefängnisse des SBU – ein Thema, das auch internationale Menschenrechtsorganisationen interessiert. Eines der Gefängnisse befand sich zu seiner Dienstzeit in einem technischen Gebäude des Flughafens in Mariupol. Dort waren in zwei Kammern zu seiner Dienstzeit in den ersten Monaten des Krieges insgesamt bis zu 300 Personen untergebracht. Die Zellen wurden "Bibliotheken" genannt, die Insassen dort "Bücher", so eng war der Raum dort. Folter und Misshandlungen standen auf der Tagesordnung. Der "Vorteil" solcher Gefängnisse besteht darin, dass man die Insassen, sollten sie sterben, als vermisst melden kann. Prosorow könne mit Sicherheit zwei solcher Fälle allein in diesem Gefängnis bestätigen.
Der Whistleblower nannte auch Medien, die vom SBU oder dem ukrainischem Verteidigungsministerium unmittelbar kontrolliert oder unterstützt werden – das ukrainische Portal censor.net, das angebliche Freiwilligenprojekt informapalm.org und der Telegram- und Twitterkanal Сталингулаг (Stalingulag).
Die Reaktion des SBU auf die Vorwürfe seines Ex-Mitarbeiters fiel spärlich aus. Die Behörde geißelte ihn via Facebook als Judas, der sich der Strafe für seinen Verrat sicher sein müsse. Er sei vom Dienst wegen "Untauglichkeit" suspendiert worden, seine Vorwürfe seien "übliche Propaganda-Fakes" des Kreml.
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Versagen der Geheimdienste
Was die Verantwortlichen in den Stuben des ukrainischen Geheimdienstes über den Skandal wirklich denken, konnte man am nächsten Tag auf den Seiten des von Prosorow genannten Portals censor.net nachlesen. In einem Artikel des Kriegskorrespondenten Juri Butusow, der über vorzügliche Kontakte zum ukrainischen Sicherheitsapparat verfügt, werden Fehler eingeräumt, die es erlaubten, dass der Spion so lange unentdeckt bleiben konnte.
Dies ist ein sehr schlechter Tag für den SBU – russische Geheimdienste haben sich Mühe gegeben, den 27. Jahrestag der Gründung zu verderben und zeigten einen Verräter, der im Krieg eine ziemlich hohe Position hatte. Das ist wirklich ein Versagen des SBU. Versagen, das dafür genutzt werden muss, um Schlussfolgerungen daraus zu ziehen und die Personalarbeit zu reformieren.
Butusow nennt interessante Details, die Prosorow in seiner Erzählung ausgelassen hat. Seine Quellen beim SBU berichteten ihm, dass der Spion bereits im Jahr 2015 unter Verdacht stand – nach seinem Urlaub in Russland (!). Seitdem stand er unter Beobachtung, aber man konnte nichts Belastbares gegen den Oberleutnant finden. Im Dezember 2017 entkam er nur knapp seiner Verhaftung, als er nach einer Durchsuchung über Weißrussland nach Russland geflohen ist.
In seinem Artikel dementiert Butusow die Behauptung des SBU, dass Prosorow wegen Alkoholkonsums und "dienstlicher Untauglichkeit" suspendiert wurde. Diese sei nach 19 Jahren Dienst der Normalfall.
Der journalistische Insider der Geheimdienste räumte ein, dass Prosorow wegen seiner ständigen Kontakte mit Entscheidungsträgern, die in ihm "einen von uns" sahen, Teile der wichtigen dienstlichen Informationen bekommen konnte.
Das ist nicht der erste bekannt gewordene Fall eines Übertritts oder einer Tätigkeit eines Doppelagenten im Ukraine-Krieg. Im Sommer 2015 wechselte der General-Major der ukrainischen Streitkräften, Alexander Kolomijetz, aus ideologischen Gründen zur Donezker Volkswehr. Er könne nicht mehr mit ansehen, wie in der Ukraine der Neonazismus wieder Einzug findet, sagte er vor der Presse.
Vor wenigen Wochen zeigte das ukrainische Fernsehen einen Bericht über die Panzerkommandantin und Symbolfigur der Donezker Volkswehr, Swetlana Drjuk, die in die Ukraine floh und dort versprach, gegen ihre ehemaligen Kameraden zu kämpfen. Über die Geschichte wird viel spekuliert, z. B. ob Liebe im Spiel gewesen sei oder sie gekidnappt und erpresst wurde.
Der Ex-Oberleutnant des ukrainischen Geheimdienstes, Wassili Prosorow, hält sich allerdings nicht für einen Überläufer. "Wir sind ein Volk. Ich verstehe nicht, wie man uns trennen kann", sagte er zum Schluss über Russen und Ukrainer. Viele Menschen in der Ukraine verstünden, dass Verbrecher an der Macht sind, auch im ukrainischen Sicherheitsapparat. Der Spion aus Überzeugung beendete seinen Auftritt mit einem emotionalen Appell an seine ehemalige Kollegen: "Ein Regime, das auf sein Volk schießt, wird als Nächstes auf ein anderes Volk schießen."
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