von Bernd Murawski
Im ersten Teil wurde auf die polizeilichen Recherchen und die Anklage gegen Russland Bezug genommen. Wie darin aufgezeigt, enthalten die von der Metropolitan Police („Scotland Yard“) vorgestellten Zeitabläufe zu den Bewegungen der Skripals wie auch der Tatverdächtigen schwer begreifliche Lücken. Ohne Begründung sind frühere Annahmen verändert worden oder ganz verschwunden. Die der russischen Regierung unterschobenen Motive lassen sich jeweils durch Gegenargumente mehr als aufwiegen. Ebenso fraglich erscheint die vermutete Weise des Attentats durch Präparierung der Türklinke mit Nowitschok. Es finden sich gewichtige Gründe, diese Kernthese der offiziellen Version als wenig glaubwürdig zu qualifizieren.
(Teil 1 können Sie hier nachlesen.)
Zweifel an den polizeilichen Ermittlungen
Dass die Entenfütterung nicht mehr in der Zeitleiste der Skripals auftaucht und dass die Bewegungen von Petrow und Boschirow anscheinend gerade soweit veröffentlicht wurden, wie ein Verdacht auf sie gelenkt werden konnte, lässt Zweifel aufkommen, ob die Ermittler eine sachgerechte Aufklärung anstreben. Zwar geht Scotland Yard ein guter Ruf voraus, hat aber dessen Stammpersonal überhaupt das Sagen?
Der ehemalige Kriminalbeamte Jürgen Cain Külbel verweist darauf, „dass die polizeilichen Sprachrohre im Fall Skripal – Neil Basu, Chefder Anti-Terror-Polizei in London, Kier Pritchard, Chef der Polizeibehörde der Grafschaft Wiltshire, in der die Tatorte Salisbury, Amesbury sowie das Zentrum der britischen Chemie- und Biowaffenforschung Porton Down liegen – am 5. März 2018 in ihre Ämter befördert worden waren; also wenige Stunden nach dem Mordversuch an Sergej Skripal und seiner Tochter Julia. Pritchard und Basu lösten zuvor neben polizeilichen und kriminalistischen Aufgaben auch geheimdienstliche.“
Dass die Metropolitan Police im Rahmen ihrer Ermittlungen eng mit dem Geheimdienst kooperiert, wird nicht nur durch den Hintergrund von Pritchard und Basu bekräftigt, sondern liegt auch wegen Skripals Tätigkeit für den britischen Auslandsgeheimdienst MI6 seit seiner Freilassung im Jahr 2010 nahe. Was folgt nun daraus? Erinnert sei an die Fake-News über angebliche Massenvernichtungswaffen des Irak vor der Invasion 2003, an deren Fabrikation der britische Geheimdienst beteiligt war. Kürzlich warf der US-Senator Richard Black dem MI6 vor, in Kooperation mit den syrischen „Weißhelmen“ einen vorgeblichen oder tatsächlichen Giftgasanschlag in Idlib zu planen. Ist es dann nicht auch denkbar, dass Geheimdienstkreise den Skripal-Giftanschlag ausgeheckt und umgesetzt haben und aktuell die Ermittlungstätigkeit in die gewünschte Richtung lenken?
Die Präsentation von Verdächtigen ist ein wichtiger Mosaikstein im offiziellen Narrativ. Petrow und Boschirow können tatsächlich einfache Touristen gewesen, aber auch im Auftrag russischer Behörden gereist sein. Falls bei der Visa-Ausstellung durch die britische Botschaft bekannt wurde, dass sie Salisbury besuchen wollen, wäre nicht auszuschließen, dass ihnen eine Falle gestellt wurde. Tatsächlich wurde erst am 28. März, also dreieinhalb Wochen nach dem Giftanschlag, offiziell verlautbart, dass sich die Skripals durch eine Berührung der Türklinke infiziert hätten. Diese Version könnte entstanden sein, nachdem das Videoüberwachungsmaterial ausgewertet wurde, um die beiden Russen als Täter erscheinen zu lassen.
Da Petrow und Boschirow von der britischen Regierung flugs zu GRU-Agenten erklärt wurden, kann vermutet werden, dass dem MI6 Gründe bekannt waren, weshalb sie die Öffentlichkeit scheuen würden. Haben sie möglicherweise eine homosexuelle Beziehung, die sie aus Angst vor einer Stigmatisierung in ihrer russischen Heimat verbergen möchten? Waren sie vielleicht in einer harmlosen Angelegenheit etwa als Kurier oder Kundschafter für eine Behörde tätig und benutzten falsche Pässe?
Der MI6 als Strippenzieher
Da die Türklinkentheorie angesichts der Fakten schwerlich aufrecht erhalten werden kann, fallen Petrow und Boschirow als Verdächtige aus. Damit erübrigt sich für sie die Notwendigkeit, sich zu erklären. Wenn sie aber unschuldig sind, wie konnten dann Nowitschok-Spuren in ihrem Londoner Hotelzimmer gefunden werden? Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder wurden sie gelegt oder es gab sie nicht. Wenn der MI6 hinter den Täuschungsmanövern steckt und gleichsam für die Giftattacke verantwortlich ist, was wäre dann das Motiv?
Külbel wurde durch eine anonyme Quelle mitgeteilt, dass der BND intern den britischen Geheimdienst als Urheber für den Giftanschlag betrachten würde. Der MI6 hätte in Erfahrung gebracht, dass Sergej Skripal an einer Rückkehr nach Russland interessiert gewesen sei. Der russische Geheimdienst FSB würde jedoch als Gegenleistung Informationen zum Trump-Dossier verlangen, an dessen Erstellung Skripal mutmaßlich beteiligt war.
Ein anderes mögliches Motiv nennt der britische Autor und Blogger Rob Slane. Nach einer Expertise des Professors Paul Gregory von der Universität Houston ist das Trump-Dossier von einer russisch-sprachigen Person verfasst worden, die in KGB-Tradition ausgebildet wurde. Als Autor käme Sergej Skripal in Frage, der ihm zugereichtes Material verarbeitet hätte. Den Auftrag hätte er durch Pablo Miller vermittelt bekommen, der ihn damals für den MI6 rekrutierte und heute sein Nachbar und Freund ist. Dieser ist mit Christopher Steel bekannt, den Gründer von „Orbis Business Intelligence Ltd“, zu dem wiederum „Fusion GPS“ mit Sitz in Washington Kontakt aufnahm, das seinerseits von der Demokratischen Partei mit der Erstellung des Dossiers beauftragt wurde. Da dieses sich nach der überraschenden Wahl Donald Trumps zum US-amerikanischen Präsidenten als höchst relevant erwies, könnte Skripal seine Auftraggeber mit der Androhung einer Publizierung erpresst haben. Schon bei früheren Entschlüssen wäre Geld sein leitendes Motiv gewesen.
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In beiden Fällen gäbe es genügend Gründe, Sergej Skripal aus dem Verkehr zu ziehen. Angesichts seiner Verdienste wollte der britische Geheimdienst augenscheinlich nicht auf die „Licence to kill“ zurückgreifen, die im Übrigen real besteht und keine Fiktion der „James Bond“-Serie ist. Kann es den Forschern von Porton Down gelungen sein, ein Nowitschok-Präparat zu entwickeln, das nicht sofort tödlich wirkt und für das ein Gegenmittel existiert? Eine solche Möglichkeit widerspricht nicht nur den bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auch den Symptomen, die bei den Opfern nach Aussage der Ärzte festgestellt wurden, die daher zunächst von einer Vergiftung mit einem Opioid wie Fentanyl ausgingen. Der Einsatz eines temporär wirkenden Mittels wie Fentanyl oder BZ ist deshalb wahrscheinlicher.
Nach Wikipedia sind die typischen Symptome von Nowitschok Schaum vor dem Mund, starke Sekretbildung, Erbrechen und allgemeiner Verlust aller Muskelfunktionen. Als Folge wird genannt: „Die Opfer sterben durch die Hemmung der Atmung und des Herzmuskels“. Dagegen treten bei einer Infizierung durch 3-Chinuclidinylbenzilat (BZ) trockene Schleimhäute, gerötete Haut und Verstopfung sowie starke Pupillenerweiterung auf. Außerdem heißt es zu BZ: „Zuerst stellen sich Kopfschmerzen, Verwirrung, Halluzinationen, dann Angstzustände, Konzentrationsstörungen, allgemeine Unruhe im Wechsel mit apathischen Phasen ein. Nach kurzer Zeit ist der Betroffene in einem Zustand völligen Realitätsverlusts. Er hat keinen bewussten Kontakt mehr zu seiner Umwelt. … Die durchschnittliche Wirkungsdauer beträgt 3 Tage.“
Die zweifelhafte Rolle von Porton Down und OPCW
Wurden aber nicht Nowitschok-Spuren in den Proben eindeutig nachgewiesen? Die Analyse erfolgte in einem Labor der Forschungsstation Porton Down nahe Salisbury, die dem Verteidigungsministerium unterstellt ist. Dessen oberster Dienstherr Gavin Williamson blamierte sich kürzlich mit einem Tweet, in dem er Bellingcat für deren „aufklärerische Arbeit“ dankte und den er 20 Minuten später wieder löschte. Wenn in einer Behörde ein Geist vorherrscht, es „dem Russen zeigen zu wollen“, sollte es möglich sein, Freiwillige für eine Fälschungsoperation anzuheuern.
Nun hat aber doch die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) Proben analysiert und daraufhin die Untersuchungsergebnisse von Porton Down bestätigt. Im OPCW-Bericht wird hervorgehoben, dass sowohl Umweltstichproben an möglichen Standorten als auch Blutproben von den drei infizierten Personen (Sergej und Julia Skripal sowie der Polizist Nick Bailey) unter voller Einhaltung der Beweismittelkette genommen wurden. Die Orte hätten allerdings während der dazwischen liegenden zweieinhalb Wochen manipuliert werden können, und für die Blutproben begnügte sich das OPCW-Team mit Lichtbildausweisen, anstatt den standardgemäßen DNA-Abgleich vorzunehmen. Stutzig macht vor allem der hohe Reinheitsgehalt des ermittelten Nowitschoks.
Aufsehen erregte die Mitteilung des russischen Außenministers Sergei Lawrow, dass das Schweizer Institut Spiez in der zu Vergleichszwecken zugesandten Probe neben A-234 (Nowitschok) den Giftstoff BZ analysiert hatte. Die OPCW erläuterte daraufhin an, es hätte sich um ein verändertes Kontrollpräparat gehandelt. Angesichts der von den behandelnden Ärzten beschriebenen Symptome bleibt ein Restverdacht bestehen. Könnte eine vornehmlich aus BZ bestehende Substanz eventuell durch winzige, für den menschlichen Organismus ungefährliche Partikel des A-234 ergänzt worden sein? Die Beantwortung der Frage soll Toxikologie-Experten überlassen werden, allerdings fände sich hier eine plausible Erklärung.
Wie das Schweizer Spiez wurde die britischen Forschungsstation Porton Down von der OPCW häufig für Gutachten genutzt. Hatte diese Form der Kooperation möglicherweise Einfluss auf die Tätigkeit des OPCW-Teams? Wie streng sind die vorgesehenen Standards tatsächlich eingehalten worden? Anhand der Zusammensetzung des Teams ließe sich ablesen, ob eine unvoreingenommene Untersuchung zu erwarten war. Informationen zu den Mitgliedern wie auch zu Planungsdetails unterliegen jedoch strikter Geheimhaltung.
An der Aufstellung des Teams war der Generaldirektor der OPCW, Ahmet Üzümcü, maßgeblich beteiligt. Die russische Seite äußerte wiederholt Zweifel an seiner Unabhängigkeit, da er nicht nur früher Vertreter der Türkei bei der NATO war, sondern sich auch weiterhin in diesen Kreisen bewegt. Seine Zugehörigkeit zur westlichen Elite wurde durch die Teilnahme an der Bilderberg-Konferenz im Jahr 2015 offenkundig. Unter Üzümcüs Führung hat die OPCW die syrische Regierung trotz dünner Faktenlage und fehlender Beweismittelkette mehrfach des Einsatzes von Giftgas bezichtigt und sich damit außerhalb ihres Kompetenzbereiches begeben.
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Dass sich Üzümcü bei der vermeintlich eingesetzten Dosis von Nowitschok um den Faktor 10000 verschätzte, sei ihm verziehen. Er ist nur Diplomat mit einem Studium der Politikwissenschaften.
Die Chronologie des Vergiftungsanschlags
Bei einer Klärung des Zeitpunkts der Infizierung mit dem Giftstoff kommt den Zeugenaussagen großes Gewicht bei. Sowohl beim Füttern der Enten als auch im Restaurant „Zizzi“ befanden sich die Skripals nach übereinstimmenden Berichten in normalem Zustand. Ein Vorfall im „Zizzi“ verlangt dennoch Beachtung. Eine Zeugin beschrieb Sergej Skripals Verhalten wie folgt:
Er drehte völlig durch, Ich wusste nicht warum und konnte ihn nicht verstehen. Das Personal hatte sich seit einiger Zeit nicht blicken lassen, aber ich denke, es ging um mehr. Er wollte nur sein Essen und gehen. Er schrie nur noch und verlor die Beherrschung. Also ich hätte ihn gebeten zu gehen. Er sagte nur: 'Ich will mein Essen und meine Rechnung. Der Kellner brachte ihm die Rechnung zur gleichen Zeit wie den Hauptgang, was ungewöhnlich war.
Derweil blieb Julia schweigsam, das Auftreten ihres Vaters war ihr offenbar peinlich. Die Aufregung Sergej Skripals lässt sich kaum als Vergiftungssymptom deuten, vielmehr als Befürchtung, eine wichtige Verabredung zu verpassen. Ob es zu einem Treffen nach Verlassen des Restaurants kam und wie es sich ereignete, ließe sich wohl durch das Material des an jenem Ort dichten Überwachungsnetzes feststellen. Leichter wäre es natürlich, die Opfer direkt zu befragen. Vom „Zizzi“ zum „Bishops Mill Pub“ sind es ungefähr 150 Meter.
Ebenso gab es im Pub ein besonderes Vorkommnis, das in der Polizeiakte folgendermaßen beschrieben wird:
"Sergej Skripal ging mit seiner Tochter um 15 Uhr auf einen Drink ins The Mill, nachdem er in dem italienischen Restaurant Zizzi gegessen hatte. In der Kneipe bestellten sie zwei Gläser Wein, bevor Sergej Skripal die Toilette benutzte. Der Zeuge, der nicht genannt werden wollte, sagte, dass Skripal bei seiner Rückkehr so aussah, als wäre er betrunken. Er sagte, Sergej Skripal und seine Tochter Julia gingen dann sofort, ohne ihre Getränke auszutrinken."
Die Tatzeit dürfte zwischen dem Verlassen des Restaurants und dem Auffinden der Skripals auf der Parkbank in bewusstlosem Zustand um 16:03 liegen. Sergej und Julia Skripal wurden demnach entweder auf dem Weg zum „Bishops Mill Pub“, im Pub selbst oder danach infiziert. Für die erste Alternative spricht das verabredete Treffen nach dem Verlassen des „Zizzi“, für die erste und die zweite der Schwächezustand Sergejs im Pub, für die letzte schließlich die meist kurze Zeitspanne zwischen Infektion und Wirkungseintritt.
Wie der Anschlag ausgeführt wurde, darüber kann nur spekuliert werden. Wurden die Skripals vor dem Verlassen des Pubs infiziert, dann haben sie dies vermutlich nicht realisiert, da sie andernfalls beunruhigt gewesen wären und Hilfe gesucht hätten. Eine Klärung könnte mittels der Kamera-Aufzeichnungen erfolgen, allerdings halten die Dienste die Hand drauf. Nun wird auch verständlich, weshalb es Sinn machte, den Besuch von „Zizzi“ und „Bishops Mill Pub“ in der offiziellen Version zu vertauschen. Dieser Akt der Verwirrung erhärtet die These, dass die Vergiftung der Skripals von britischer Seite geplant und durchgeführt wurde. Oder wie es in dem vielzitierten Satz heißt: „Es gibt keine andere plausible Erklärung“.
Westliche Motive
Die britische Premierministerin Theresa May hielt ihre Rede, in der sie Russland für die Attacke auf die Skripals verantwortlich machte, am 12. März. Bis dahin waren fünf Tage vergangen, seit die Metropolitan Police berichtete, Sergej und Julia Skripal seien durch einen Nervenkampfstoff vergiftet worden. Nach Ablauf des Russland gestellten Ultimatums wies Großbritannien 23 russische Diplomaten aus. Noch im gleichen Monat folgten 27 Staaten des westlichen Blocks, davon 18 EU-Länder. Überraschenderweise war es der US-amerikanische Präsident, der noch zögerte und seine Entscheidung von der Reaktion anderer westlicher Staaten abhängig machte.
Wenn auch der britische Geheimdienst vorpreschte, so konnte er doch gewiss sein, dass die Regierung nicht dem Verlangen widerstehen würde, Russland einen Hieb zu verpassen. Dabei kann als sicher angenommen werden, dass die Bereitschaft führender westlicher Staaten zu einer konzertierten Aktion frühzeitig ausgekundschaftet wurde. Eine derart drakonische Maßnahme wie die Ausweisung russischer Diplomaten wäre kaum unternommen worden, wenn sich die Regierungen anderer Länder allein auf das ihnen zugesandte Dokument und einige nicht verifizierbare Informationen des MI6 gestützt hätten.
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Die Motive sowohl der Briten wie auch ihrer Verbündeten liegen auf der Hand: Die Rückschläge des Westens in der westasiatischen Region, insbesondere aber seine in Syrien und in der Ukraine erlittenen Debakel haben die strategische Position Russlands gestärkt, das im Zuge der bevorstehenden Fußballweltmeisterschaft einen weiteren Imago-Gewinn verbuchen würde. Überdies vermehrten sich die wirtschaftlichen und kulturellen Kontakte zu Russland, und nicht nur in Kreisen der deutschen Sozialdemokratie wurden Stimmen lauter, die einen Ausstieg aus den Sanktionen forderten. Gleichzeitig gerieten die in Großbritannien regierenden Konservativen wie auch die staatstragenden Parteien zahlreicher EU-Staaten in zunehmende Bedrängnis; ein äußerer Feind könnte helfen, die Solidarität der Demokraten einzufordern und den Einfluss von Randparteien zurückzudrängen.
Vor allem aber dürften dominante politische Kreise beiderseits des Atlantiks befürchten, dass die Umstände der Entstehung des Trump-Dossiers enthüllt werden könnten. Neben einer Schwächung Russlands sind sie ebenso eifrig bemüht, den US-amerikanischen Präsidenten im Zaum zu halten. Die der Öffentlichkeit immer schwerer vermittelbare Kampagne gegen den Chef des Weißen Hauses wäre in einem Desaster geendet. War dies möglicherweise der Grund für die zögernde Haltung Donald Trumps?
Die Abschirmung der Skripals von der Außenwelt
Die Skripals werden seit mehr als einem halben Jahr unter Verschluss gehalten, und ein Ende ist nicht abzusehen. Sowohl dem russischen Botschafter als auch den Angehörigen wird weiterhin ein Zugang verwehrt. Hätte umgekehrt Russland zwei britische Bürger an einem „sicheren Ort“ festgehalten, würden die westlichen Mainstream-Medien daraus einen Dauerbrenner machen und wäre vermutlich weiter an der Sanktionsspirale gedreht worden.
Während es von Sergej bislang kein Lebenszeichen gibt, konnte Julia einige Male mit ihrer Cousine Viktoria telefonieren und eine öffentliche Erklärung abgeben. Interessanterweise erwähnte sie zwar, vergiftet worden zu sein, benannte aber nicht den Urheber. Es wäre anzunehmen, dass sie mit denselben Informationen versorgt würde wie die westliche Öffentlichkeit und folglich die russische Regierung verdächtigen müsste. Bei ihrem knapp zweiminütigen, an vier Stellen geschnittenen Statement hätte sie Gelegenheit gehabt, Unmut und Widerwillen zu artikulieren, es den russischen Hintermännern des Anschlags „mal so richtig zu geben“. Dass es offensichtlich nicht gelang, sie von einer Schuld Russlands zu überzeugen, lässt sich nur auf eine Weise erklären: Sie kannte die wahren Täter oder hatte zumindest eine starken Verdacht.
Am 18.10. berichtete die Daily Mail über den Wunsch von Sergejs Mutter Jelena, Sohn und Enkeltochter in England besuchen zu können. Sie befürchte jedoch, wie Julias Cousine kein Visum zu erhalten. Sie sei enttäuscht, von ihrem Sohn nicht angerufen worden zu sein. Im letzten Telefongespräch am 24.7. anlässlich ihres 90-jährigen Geburtstags hätte Julia ihr zugesagt, dass Sergej sich melden würde, wenn er wieder reden könne. Er hätte neben ihr gesessen, wäre jedoch wegen einer Tracheotomie nicht sprechfähig gewesen. Drei Tage später sollte der Schlauch entfernt werden, allerdings haben seitdem weder Sergej noch Julia telefonisch Kontakt aufgenommen.
Im Artikel der Daily Mail wird gemutmaßt, dass es deshalb keine weiteren Telefonate gegeben habe, weil russische Kräfte auf die Spur der Skripals gelenkt werden könnten. Hier wird offenbar die Potenz des MI6 unter- und die des GRU überschätzt. Dass ein paar Telefongespräche die Sicherheit der Skripals gefährden würden, falls sie tatsächlich von Russland bedroht seien, kann nicht ernsthaft geglaubt werden. Wenn sie selbst keine Kontakte wünschen oder sich vor einem Mordanschlag fürchten, dann sollen sie dies öffentlich kundtun können. Indem Julia in der Erklärung vom 23. Mai die Hoffnung auf eine Rückkehr in ihre Heimat artikulierte, vermittelte sie einen gegenteiligen Eindruck.
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