NATO zerstritten wie nie - Doch gegen "russische Bedrohung" zeigt sich die Allianz geeint

Der NATO-Gipfel hat gezeigt, dass die Allianz trotz Streitigkeiten immer noch bereit ist, sich gegen Russland hochzurüsten. Ein ehemaliger Berater des französischen Verteidigungsministeriums spricht von "Schutzgeld", das die USA von Europa verlangten.

Der NATO-Gipfel zeigte von Anfang an, dass die Widersprüche zwischen den einst engen Verbündeten größer geworden sind. Während NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg verzweifelt versucht, den Schein zu wahren, startete US-Präsident Donald Trump, der Führer jenes Landes, das immer schon das militärische Bollwerk des Blocks stellte, einen Angriff gegen seine eigenen Verbündeten, um diese dazu zu bewegen, mehr zum US-geführten Bündnis beizutragen.

Trump nutzte die Gelegenheit, um seine Forderungen an andere NATO-Mitglieder zu erneuern und setzte die US-Verbündeten auch mit Blick auf einen parallel stattfindenden, anhaltenden Handelsstreit weiter unter Druck. Er hat dabei auch kein Blatt vor den Mund genommen, als er seine europäischen Partner, vor allem Deutschland, hinsichtlich ihrer uneindeutigen Beziehungen zum Nachbarn Russland angriff. Während diese auf der einen Seite stets forderten, vor einem angeblich aggressiven Russland beschützt zu werden, machten sie mit Russland gleichzeitig groß angelegte Geschäfte und stockten ihren eigenen Verteidigungsetat nicht auf.

"Viele Länder zahlen nicht, was sie sollten, und offen gesagt, viele Länder schulden uns seit vielen Jahren einen enormen Geldbetrag", sagte Trump während seines Frühstücks mit Stoltenberg und nannte die US-NATO-Verbündeten "delinquent". Schon vor Beginn des Gipfels preschte der US-Staatschef auch auf Twitter vor, um seine Unzufriedenheit auszudrücken.

"Die NATO-Länder müssen mehr bezahlen, die Vereinigten Staaten weniger. Sehr unfair", erklärte er, während er sich rhetorisch fragte, ob die Verbündeten in Europa die USA "entschädigen würden".

Trump will nunmehr vier statt zwei Prozent als Etatziel

Schließlich forderte Trump, dass die NATO-Mitglieder ihre Militärbudgets nicht erst bis 2024, sondern "sofort" erhöhen sollten. Seine ursprünglichen eigenen Forderungen schraubte der Präsident dabei sogar noch weiter hoch. Künftig sollen die Mitglieder der Allianz ihre Militärausgaben nicht nur auf zwei, sondern auf vier Prozent ihres jeweiligen Bruttoinlandsprodukts (BIP) anheben.

Das International Institute for Strategic Studies (IISS), ein 1958 gegründetes britisches Forschungsinstitut auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen und strategischer Studien, kommt zu einem anderen Ergebnis als Trump. Laut IISS-Erhebungen liegen zwar die US-Rüstungsausgaben für Europa weit über dem NATO-Schnitt in Europa. Dennoch machten die direkten US-Ausgaben für die europäische Sicherheit nur einen Bruchteil der gesamten Sicherheitsinfrastruktur der NATO in Europa aus.

Deutschland ein "Gefangener Russlands"?

Besonders hart wurde Berlin von Trump kritisiert, der Deutschland wegen seiner Abhängigkeit von der Moskauer Energieversorgung als "Gefangenen Russlands" ins Kreuzfeuer nahm. Er behauptete wörtlich, dass Deutschland "Milliarden von US-Dollar" nach Moskau gezahlt hätte, anstatt das Geld für den Schutz Washingtons auszugeben.

Trumps Aussagen lösten wiederum eine empörte Reaktion bei Bundeskanzlerin Angela Merkel aus, die daran erinnerte, dass Deutschland der "zweitgrößte Truppenlieferant" für die NATO wäre und damit im Grunde "die Interessen der Vereinigten Staaten verteidigt". Der deutsche Außenminister Heiko Maas ging noch weiter und sagte, dass seine Nation kein Gefangener sei, "weder von Russland noch von den Vereinigten Staaten".

"Diese Gipfel haben wirklich nur ein Ziel: Die eine Sache, die erreicht werden muss, ist Einheit", sagte Doug Lute, US-Botschafter bei der NATO in der Zeit von 2013 bis 2017, dem US-Nachrichtenportal The Daily Beast.

Alles, was die Einheit untergräbt, wie diese frühen Schüsse von Trump auf Deutschland, ist sehr destruktiv.

Laut François Heisbourg, einem der angesehensten europäischen Verteidigungsanalysten, betrachtet Trump die EU im Wesentlichen als einen Rivalen wie die Volksrepublik China, nur schwächer.

"Trump hat eine Vision von der Welt, in der alles bilateral ist und die Vereinigten Staaten ihre Macht monetarisieren können", meint Heisbourg.

Die NATO in [ein Bündnis für] Schutzgelderpressung zu verwandeln, das ist das beste Schicksal, das er uns verspricht.

Der große Unterschied zwischen Trump und seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin bestehe laut dem ehemaligen Berater des französischen Verteidigungsministeriums darin, dass "die Taktik von Trump haarsträubend ist, während die von Putin eher exquisit ist".

Während sich die wichtigsten NATO-Staaten im Clinch befinden, versuchte NATO-Generalsekretär Stoltenberg offenbar den Eindruck zu vermitteln, dass diese "Diskussionen" nichts Ungewöhnliches seien. Obwohl er einräumte, dass es einige "Meinungsverschiedenheiten" gebe, äußerte er sein "Vertrauen" dahingehend, dass das Bündnis "liefern wird".

Russland doch keine unmittelbare Bedrohung?

Der NATO-Generalsekretär schien am ersten Tag des Gipfels, zumindest soweit es um die PR-Arbeit ging, in einer sanftmütigen Stimmung gewesen zu sein. Möglicherweise Trumps implizite Aufforderung aufgreifend, doch bitte eine logisch konsequente Position einzunehmen, räumte er ein, dass Russland im Grunde dann doch keine "unmittelbare Bedrohung" für die "Verbündeten" darstellt. Stoltenberg fordert einmal mehr einen Dialog mit Russland, um "schwierige Beziehungen zu managen".

Selbst die Wiedervereinigung der Krim mit Russland – ein Thema, das seit dem Referendum 2014 vom Westen und insbesondere der NATO zur Verteufelung Russlands genutzt wurde – scheint für Stoltenberg an strategischem Gewicht verloren zu haben. Der NATO-Chef unterstrich, dass "Russland unser Nachbar" ist und "nicht so bald verschwinden wird".

Während Stoltenberg zwar immer noch von einer "illegalen Annexion der Krim" spricht, fügte er hinzu:

Es ist kein Argument dafür, Russland zu isolieren oder nicht mehr mit Russland zu reden.

Er fügte hinzu, dass ein erneutes Engagement mit Moskau mehr Nutzen als Schaden bringen könnte. Möglicherweise käme dies jedenfalls auch tatsächlich billiger als alle Verteidigungsetats der Mitgliedsländer auf vier Prozent zu erhöhen.

Militäraufbau geht weiter

Doch Taten sprechen weiterhin mehr als Worte. Noch am gleichen Tag kündigte Stoltenberg an, dass sich die NATO-Mitglieder unter Ägide Washingtons darauf geeinigt hätten, eine militärische Bereitschaftsinitiative in Europa zu starten.

Das Programm beinhaltet die Schaffung von "zusätzlichen 30 großen Marineeinheiten, 30 Manöverbataillonen und 30 Luftgeschwadern", die innerhalb von 30 Tagen oder weniger eingesetzt werden könnten. Neben dem Bau von zwei neuen Kommandozentralen in den USA und Deutschland wurde dieser Schritt als eine weitere Maßnahme im Rahmen einer "Erstickungsstrategie" gegen Moskau bewertet.

Ein NATO-Stratege, der namentlich nicht genannt werden wollte, teilte der österreichischen Tageszeitung Der Standard mit, dass man sich "vom rhetorischen Gewitter Trumps nicht ablenken lassen" soll. Entscheidend sei, dass Washington zu den neuen Vereinbarungen stehe.

Unter dem Vorwand, dass Russland an deinen eigenen Grenzen "aggressiv" handeln würde, setzt der NATO-Block damit seine Expansion gen Osten fort. Am Mittwoch haben die Staats- und Regierungschefs der NATO Mazedonien offiziell zu Beitrittsgesprächen eingeladen. Die Einladung, die in einem Kommuniqué auf dem NATO-Gipfel formalisiert wurde, dürfte die Besorgnis Moskaus über das "defensive" Projekt, das schon immer gegen Russland gerichtet war, noch verstärken.