von Timo Kirez
Der rechtsnationale Front National steht vor einer Zerreißprobe. Während Marine Le Pen versucht, die Partei ideologisch zu entrümpeln und sie politisch in die bürgerliche Mitte zu rücken, lässt ihr Vater und Parteigründer Jean-Marie Le Pen keine Gelegenheit ungenutzt, seiner Tochter in die Parade zu fahren. Am 10. Und 11. März findet in Lille ein Parteitag des Front National statt, bei dem unter anderem eine Namensänderung beschlossen werden soll.
Geschickt lancierte ihr Vater, der weiterhin Ehrenvorsitzender des Front National ist, nun erste Auszüge seiner Memoiren. Die französischen Zeitungen Le Parisien und Le Point veröffentlichten mehrere Auszüge aus dem ersten Band, der voraussichtlich am 1. März erscheinen wird. Jean-Marie Le Pen spricht in den Auszügen über seine Jugend und wie nicht anders zu erwarten über seine ganz persönliche Sicht auf bestimmte Episoden der französischen Geschichte.
Die nun veröffentlichten Auszüge dürften Marine Le Pen zur Weißglut treiben. Ihre Bemühungen, den Front National aus der rechtsextremen und geschichtsrevisionistischen Ecke zu führen, werden einmal mehr von dem Mann konterkariert, dem sie ihre eigene Karriere verdankt – ihrem Vater. So verteidigt Le Pen Senior unter anderem den berüchtigten Maréchal Philippe Pétain, der am 22. Juni 1940 den deutsch-französischen Waffenstillstand von Compiègne unterschrieb und damit de facto die Kapitulation Frankreichs erklärte.
Anschließend verlegte Pétain den Sitz der Nationalversammlung nach Vichy, es entstand das sogenannte "Vichy-Regime", das sich von der republikanischen Tradition der französischen Revolution abwandte und die Verfassung der Dritten Republikaußer Kraft setzte. Mit den ersten Konstitutionsakten brachte Pétain "eine die Rechte von Arbeit, Familie und Vaterland garantierende Verfassung für den État français" auf den Weg und erklärte sich selbst zum Chef de l'État (Staatschef). Dabei stattete er sich mit nahezu absoluten Vollmachten gegenüber Exekutive, Legislative und Judikative aus.
Wegen der staatlichen Kollaboration mit dem Nazi-Regime, der autoritären Innenpolitik sowie zunehmender deutscher Repressalien verlor das Vichy-Regime ab dem Jahr 1942 spürbar an Rückhalt in der Bevölkerung und geriet in immer stärkere Abhängigkeit zum Deutschen Reich. Die Aufstellung einer Freiwilligenlegion zur Unterstützung der Wehrmacht im Kampf gegen den Bolschewismus in der Sowjetunion radikalisierte zudem den kommunistischen Widerstand in Frankreich und brachte der Résistance regen Zulauf.
Auf Druck des Deutschen Reiches hin ernannte Pétain den deutsch-freundlichen Pierre Laval nach dem Jahr 1940 auch zwei Jahre darauf erneut zu seinem Stellvertreter und Regierungschef. Laval intensivierte die Kollaboration, indem er unter anderem die verstärkte Zuführung von französischen Zwangsarbeitern für die deutsche Kriegswirtschaft und die Deportation von Juden organisierte. Zu diesem Zweck gründete er mit der Milice française eine paramilitärische Einheit, die eng mit der deutschen Besatzungsmacht zusammenarbeitete.
Nach Kriegsende wurde Pétain am 14. August 1945 in Paris von einem Kriegsgericht wegen Kollaboration mit dem Feind und Hochverrats nach mehrwöchigem Prozess für schuldig befunden und zum Tod verurteilt. Der erste Regierungschef Charles De Gaulle begnadigte Pétain, doch dieser musste dennoch eine lebenslange Haftstrafe verbüßen. Seine bürgerlichen Ehrenrechte wurden ihm aberkannt. Pétain verstarb im Jahr 1951 während seiner Haftzeit auf der Atlantikinsel Île d'Yeu.
Für Jean-Marie Le Pen hat Pétain im Jahr 1940 "mit der Unterzeichnung des Waffenstillstands nicht versagt" und vielmehr sei General de Gaulle "eine schreckliche Quelle des Leidens für Frankreich" gewesen. Philippe Pétain war laut Jean-Marie Le Pen "legal und legitim", er habe "mit dem Deutschen Reich einen rechtmäßigen und verbindlichen Akt vollzogen". Die Mehrheit der Franzosen sei zwar der Meinung gewesen, dass Frankreich ein Schwert und einen Schild gegen die Deutschen gebraucht habe, aber ihm sei schnell klar gewesen, dass für die Gaullisten der Feind mehr in Vichy als in Berlin gesessen habe.
De Gaulle habe Pétain versenken müssen, um selbst zu klettern", so Jean-Marie Le Pen. Für ihn sei [Charles de Gaulle] nach wie vor eine schreckliche Leidensquelle für Frankreich." Er habe De Gaulle im Jahr 1945 in Morbihan getroffen:
Ich schüttelte diese gleichgültige Hand. Er wirkte hässlich auf mich und sagte mir ein paar Banalitäten auf der straffen Tribüne der Trikolore. Er sah nicht wie ein Held aus. Ein Held muss gutaussehend sein. Wie der Heilige Michael oder Marschall Pétain. Ich war wieder enttäuscht.
Auch zu dem Algerienkrieg, der zwischen Frankreich und seiner ehemaligen Kolonie in den Jahren 1954 bis 1962 tobte, hat Jean-Marie Le Pen seine eigenen Ansichten. Vor allem was die Foltervorwürfe gegen die französische Armee betrifft.
Die französische Armee kehrte aus Indochina [Indochinakrieg 1946 bis 1954] zurück. Dort hatte sie die schreckliche Gewalt gesehen, die durch ihre Phantasie hindurchging und das Herausreißen eines Fingernagels menschlich aussehen ließ. Dieser Horror, unsere Mission war es, ihn [den Algerienkrieg]zu beenden. Also, ja, die französische Armee praktizierte die Frage [Folter], um Informationen während der Schlacht von Algier zu erhalten, aber die Mittel, die sie einsetzte, waren so wenig gewalttätig wie möglich ... Es gab die Schläge, die Gégène [Elektroschocks] und die Badewanne, aber keine Verstümmelung, nichts, das die körperliche Integrität beeinträchtigte.
Und weiter:
Es ist mehr als lächerlich, es ist pervers, es ist zutiefst unmoralisch, Männer zu stigmatisieren, die den Mut haben, auf Befehl [Folter] zu benutzen, [um] Informationen zu erlangen, die Zivilisten retten wird.
Die Aussagen Jean-Marie Le Pens zu den Foltermethoden stehen in direktem Widerspruch zu verschiedenen Aussagen ehemaliger, hochrangiger Militärs, die unumwunden eingeräumt haben, dass während des Algerienkriegs systematisch Folter und Erschießungen stattgefunden haben. Zwei hochrangige Generäle a.D. hatten im Jahr 2001 gegenüber der Tageszeitung Le Monde zugegeben, im Algerienkrieg in den Jahren 1954 bis 62 Angehörige der FLN, der damaligen algerischen Befreiungsbewegung, gefoltert, misshandelt und liquidiert zu haben.
Der im Jahr 2002 verstorbene General a.D. Jacques Massu, im Jahr 1957 Chef der berüchtigten "Paras" (10. Fallschirmspringerdivision), und sein damaliger Stellvertreter, der im Jahr 2013 verstorbbene General Paul Aussaresses, damals Leiter des französischen Geheimdiensts in Algier, bestätigten gegenüber Le Monde, dass über 3.000 Gefangene, die damals als "verschwunden" galten, in Wirklichkeit exekutiert worden waren.
Aussaresses erklärte, Folter und Mord hätten im Jahr 1957 zum festen Bestandteil der französischen Kriegspolitik gehört. Er brüstete sich, Mittel angewandt zu haben, die auch durch das Kriegsrecht nicht gedeckt waren, seinen Untergebenen den Befehl zu töten gegeben und 24 FLN-Angehörige eigenhändig liquidiert zu haben. Und er ergänzte: "Ich bereue es nicht."
Die umstrittenen Aussagen Jean-Marie Le Pens in seinen Memoiren dürften den Parteitag am 10. März in Lille in schwere Turbulenzen stürzen. Genau dieses Thema, die Vergangenheit des Front National, wollte Marine Le Pen loswerden. Nun holen sie die Geister der Vergangenheit wieder ein.