Von Wladimir Kornilow
Woher noch Kanonenfutter nehmen? Das ist das Hauptproblem des ukrainischen Militärs, das offen in Kiew und im Westen diskutiert wird. Wladimir Omeljan, ehemals Infrastrukturminister der Ukraine, der heute im Rang des Hauptmannes im ukrainischen Militär dient, hat diese Problemstellung sehr eindeutig ausformuliert. In einem Interview an The Guardian erklärte er, Kiew sei fähig, den Donbass und die Halbinsel Krim zu erobern, falls der Westen mit Kampfpanzern und Kampfflugzeugen F-16 in der nötigen Anzahl aushelfen würde. Und falls Kiew bereit wäre, weitere 300.000 bis 500.000 Soldaten im Gemetzel zu verheizen. Bezüglich des letzten Punktes gibt sich Omeljan besonders bestürzt:
"Doch ich sehe keine weiteren 500.000 Mann, die zu sterben bereit wären."
Auch sehe der Hauptmann keine Bereitschaft seitens des Westens, Kiew die Waffensysteme der benötigten Typen und in den benötigten Mengen zu überlassen.
Noch vor wenigen Monaten konnte Selenskij bei seinen Touren durch Europa blauen Auges dem dortigen Publikum vorlügen, vor jeder Rekrutierungsstelle ständen Freiwillige Schlange. Mittlerweile aber haben in der westlichen Journalistenzunft nur die notorischen, absoluten Müßiggänger sich noch nicht zum von Omeljan umrissenen Problem ausgelassen: Das Kanonenfutter ist verheizt worden und Bedienstete der ukrainischen Rekrutierungsstellen veranstalten nunmehr regelmäßig allerorten im Lande ihre Menschenjagden in den Straßen.
Man siehe und staune, wie viel im Westen allein in der vergangenen Woche zu diesem Thema veröffentlicht wurde. CNN hat diesem Problem gar eine umfangreiche journalistische Ermittlung gewidmet und den Artikel mit den Ermittlungsergebnissen wie folgt getitelt:
"Der Krieg zieht sich in die Länge – und damit benötigt die Ukraine mehr Soldaten. Nicht alle sind zum Dienst bereit."
Potenzielle Rekruten, die von den US-Journalisten befragt wurden, nannten die Entsendung junger Ukrainer an die Front einen "sinnlosen Mord" und stellen unbequeme Fragen:
"Was hat mir dieses Land gegeben, dass ich ihm etwas schulden soll?"
Übrigens wurde im selben Material ein weiteres Problem angesprochen, das unmittelbar mit der Mobilmachungsverweigerung seitens der Ukrainer verbunden ist: Die Anzahl von Söldnern aus dem Ausland im Dienste Kiews ist schlagartig gesunken. Ist auch Ihnen aufgefallen, dass an der Front aufgenommene, vor lauter Bravour triefende englischsprachige Videoclips aus den einschlägigen sozialen Medien wie TikTok neuerdings nahezu verschwunden sind? Achten Sie bei Gelegenheit einmal darauf. In seinem Interview an CNN allerdings erklärt ein verwundeter ukrainischer Leutnant dies damit, dass nahezu die Hälfte aller Ausländer nach einem kurzen Aufenthalt in der Hölle des Krieges ihre Verträge mit dem ukrainischen Militär annulliert haben. Frei nach dem Motto:
"Nee, nee, was zu viel ist, ist zu viel. Für einen solchen Krieg haben wir ganz sicher nicht unterschrieben."
Aufschlussreich war schließlich auch eine Reportage, die jüngst im niederländischen Blatt NRC Handelsblad veröffentlicht wurde. Journalisten dieser Zeitung fanden heraus: In den Niederlanden halten sich momentan bis zu 25.000 ukrainische Männer im wehrpflichtigen Alter auf und deren Zustrom in das Land ist in der jüngsten Zeit deutlich angewachsen. Reporter haben die Kerle befragt, die der Zwangsrekrutierung in der "demokratischen" Ukraine entgehen und aus dem Land fliehen konnten. Die Journalisten sahnten spannende und bildreiche Erzählungen über das Korruptionsunwesen im ukrainischen Militär ab. Einer der Flüchtlinge nannte die ukrainische Armee gar unverblümt und geradeaus eine "korrumpierte Bande". Etwa über die Käuflichkeit des Leitpersonals der ukrainischen Wehrämter, der sogenannten Kriegskomissare, werden mittlerweile sogar Lieder gedichtet:
So viel zum Thema Menschenschlangen vor ukrainischen Rekrutierungsstellen.
Urteilt man nach dem Tenor besagter Veröffentlichungen, so denkt man im Westen ernsthaft darüber nach, wie man die ihrer rabenmütterlichen Heimat entflohenen ukrainischen Wehrpflichtigen dorthin zurückschicken kann, um so das von Omeljan formulierte Problem zu lösen. Die oben zitierte CNN-Schlagzeile mutet nicht umsonst fast wie ein Appell an. Nicht ausgeschlossen, dass Kiews Mangel an Kanonenfutter eines der Themen war, die bei der Visite des Pentagon-Chefs Lloyd Austin in Kiew besprochen wurden.
Allerdings: Selbst falls ein solcher Plan ausgearbeitet und umgesetzt werden sollte, wird dies den Kampfgeist der Ukrainer ganz bestimmt nicht heben. Und der Kampfgeist befindet sich auf einem Rekordtiefpunkt – was sogar The Guardian einräumt. Nicht umsonst besprechen englischsprachige Teilnehmer in den sozialen Netzwerken äußerst rege einen viralen Videoclip von irgendeinem Konzert, das eine ukrainische Sängerin vor ukrainischen Soldaten gab. Jack Posobiec, ein sehr beliebter rechtskonservativer US-Blogger, kommentierte dies wie folgt:
"Achtet auf das Alter dieser Rekruten – und auf ihren Gesichtsausdruck!"
Ein Nutzer antwortete ihm:
"Da sind nur ältere Männer – und sie sehen alle schon besiegt aus."
So viel zum Thema Kampfgeist. Solcher Ukrainer kann man eine halbe Million oder eine Million an die Front schicken oder gar alle, die noch übrig geblieben sind – doch dies wird die Zersetzung der ukrainischen Gesellschaft, die selbst im Westen schon erkannt worden ist, nur noch verstärken und beschleunigen.
Übersetzt aus dem Russischen.
Wladimir Kornilow ist ein sowjetischer, ukrainischer und russischer Politologe, Geschichtswissenschaftler, Journalist, Schriftsteller und gesellschaftlicher Aktivist. Ehemals Leiter der Ukrainischen Filiale des Instituts der GUS-Staaten in Kiew und Leiter des Zentrums für eurasische Studien in Den Haag. Nach seiner scharfen Kritik am Euromaidan musste er aus der Ukraine flüchten und arbeitet seit 2017 als Kolumnist bei Rossija Sewodnja. Führt eine Telegram-Kolumne zu aktuellen politischen Nachrichtenanlässen.
Mehr zum Thema – 266 Hektar für Gefallene: Ukraine will den größten Soldatenfriedhof Europas errichten