Von Alex Männer
Knapp vier Monate nach dem Beginn ihrer Großoffensive haben die ukrainischen Streitkräfte weder den Durchbruch der russischen Verteidigungslinien noch irgendein anderes ihrer gesetzten Ziele erreicht. Stattdessen scheinen sie die Initiative auf dem Kriegsschauplatz endgültig verloren zu haben. Denn es sind inzwischen die Russen, die regelmäßig (kleinere) Geländegewinne erzielen und damit höchstwahrscheinlich eine strategische Offensive vorbereiten.
Doch obwohl die Ukraine große territoriale Verluste bislang vermeiden konnte, zeigen sich ihre westlichen Partner diesbezüglich insgesamt eher pessimistisch. So gehen die USA zumindest von taktischen Erfolgen Russlands aus, die in den kommenden Monaten realisiert werden könnten. Ein Grund für diese Einschätzung sind womöglich Anzeichen für einen baldigen Zusammenbruchs der ukrainischen Streitkräfte, die die Frontlinie über kurz oder lang nicht werden halten können.
Grundsätzlich ist anzumerken, dass sich die ukrainische Armee in einem äußerst kritischen Zustand befindet. Sie ist nach mehr als 20 Monaten Krieg sowie der katastrophalen Gegenoffensive im vergangenen Sommer sowohl nominell als auch qualitativ enorm geschwächt. Allein seit Juni sollen die ukrainischen Streitkräfte mehr als 80.000 Soldaten und eine beträchtliche Menge an westlicher Militärausrüstung verloren haben. Insgesamt werden die Gesamtverluste der Ukraine seit Kriegsbeginn im Februar 2022 auf etwa 500.000 Mann geschätzt – das sind Verhältnisse wie im Zweiten Weltkrieg.
Es häufen sich die Berichte, wonach der ukrainische Generalstab gezwungen sei, immer mehr Reserven zu bilden und sie von einem gefährlichen Frontabschnitt zum nächsten zu verlegen, um die Lage zu stabilisieren. Bei dem Großteil dieser Kräfte soll es sich obendrein um keine frischen Einheiten handeln, sondern um jene, die von einem eher ruhigen Frontabschnitt abgezogen wurden.
Defizite bei der Mobilmachung
Ein Hauptproblem der ukrainischen Armee angesichts des hohen Bedarfs an Personal ist das tatsächliche Mobilisierungspotential der Ukraine. Im vergangenen Jahr ist die Kiewer Führung noch davon ausgegangen, dass die vorhandenen Personalressourcen ausreichen würden, um die Kampfhandlungen gegen Russland über einen langen Zeitraum erfolgreich fortzuführen. Doch inzwischen konstatiert man sowohl in der Ukraine als auch im Ausland, dass das Ergebnis der Mobilmachung und die Anzahl von Soldaten nicht ausreichen, um an der Front den gewünschten Erfolg zu bringen.
In der Tat weisen viele Anzeichen darauf hin, dass die Möglichkeiten der Mobilmachung in der Ukraine zumindest zum heutigen Zeitpunkt vollständig ausgeschöpft wurden. Denn obwohl das Reservoir aus wehrdienstfähigen Ukrainern ursprünglich auf fünf Millionen geschätzt wurde, die gesamten Verluste "nur" zehn Prozent dieser Zahl ausmachen und es demnach theoretisch noch mindestens drei bis vier Millionen Mann in der Reserve gibt, herrscht dennoch ein akuter Mangel an Personal.
Vor allem die derzeitige Einberufung von neuen Rekruten spricht Bände. Laut neuen Regeln können im Grunde alle Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren eingezogen werden. Nicht ausgenommen davon sind auch Männer mit gesundheitlichen Einschränkungen, unter anderem auch jene, denen zum Beispiel ein Arm oder ein Bein fehlt. Darüber hinaus können auch viele Frauen, die im Bereich Medizin und Krankenhauswesen beschäftigt sind und seit Langem als wehrdienstpflichtig gelten, einberufen werden.
Dass diese neu rekrutierten ukrainischen Soldaten sich nicht gerade durch eine hohe Kampffähigkeit und Moral auszeichnen, ist wohl anzunehmen. Überhaupt verweigern immer mehr Ukrainer den Kampf und gehen stattdessen lieber in Gefangenschaft. Allein seit dem Sommer haben sich russischen Angaben zufolge mehr als 10.000 ukrainische Soldaten ergeben.
Mangel an gut ausgebildeten Soldaten
Allerdings sind die neuen Regeln bei der Mobilmachung nicht der einzige Grund, warum die Kampffähigkeit der ukrainischen Armee sinkt. Defizite gibt es nämlich vor allem beim Offizierskorps und den Unteroffizieren, wo es an gut ausgebildetem Personal mangelt. Hierbei ist die ukrainische Führung sich durchaus im Klaren darüber, dass der Bedarf so schnell nicht abgedeckt werden kann und dass die besagten Rekruten dabei vermutlich keine Abhilfe schaffen.
Darüber hinaus ist sogar die Ausbildung durch westliche Staaten in die Kritik geraten und wird mittlerweile sogar vom ukrainischen Militär teilweise infrage gestellt. Die Ukrainer bemängeln etwa, dass die westlichen Ausbilder die Spezifik dieses Krieges gegen Russland nicht verstehen und die ukrainischen Soldaten stattdessen für jene Art Kampfhandlungen vorbereiten würden, die unter anderem für den Nahen Osten typisch wären. Die westlichen Staaten weisen die Kritik jedoch von sich und machen die Ukrainer selbst für ihre Misserfolge bei der Großoffensive verantwortlich.
Dennoch stellt sich die Frage, inwiefern das Training und die Instruktion der ukrainischen Einheiten in den westlichen Ausbildungszentren für den Krieg gegen die russische Armee überhaupt ausreichend sind. Zumindest haben russische Militärexperten bereits einige Male darauf hingewiesen, dass einigen der ukrainischen Einheiten, die von westlichen Militärs ausgebildet wurden, fatale Fehler im Kampfeinsatz unterlaufen waren.
So etwas mindert nicht nur die Kampffähigkeit der Truppen, sondern untergräbt auch das Vertrauen der Soldaten in ihre Vorgesetzten und schwächt damit den Kampfgeist. Infolgedessen steigt die Zahl der Deserteure und derjenigen, die sich einfach nur ergeben wollen – mit fatalen Folgen für die ukrainische Armee, die nicht mehr das Personal hat, um die entstandenen Lücken aufzufüllen.
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