"Zugunsten der Kapitaleinkommen": Reallöhne brechen EU-weit ein

Laut einem Bericht der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung erlitten Arbeitnehmer in der EU 2022 einen "bisher einmaligen Verlust an Kaufkraft". Während zunächst hohe Energiepreise der Treiber der Inflation waren, sollen mittlerweile die überhöhten Preise der Unternehmen schuld sein.

Arbeitnehmer in der EU haben im vergangenen Jahr erheblich an Kaufkraft eingebüßt. Das ergab der aktuelle Europäische Tarifbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, der am Dienstag veröffentlicht wurde. In 26 von 27 EU-Ländern sanken demnach die Reallöhne um durchschnittlich vier Prozent.

Die stärksten Lohnverluste hatten Estland (9,3 Prozent), Griechenland ( 8,2 Prozent) und Tschechien ( 8,1 Prozent) zu verzeichnen. Mit 4,1 Prozent lag Deutschland im EU-Durchschnitt. Die Ausnahme bildete Bulgarien, wo die Reallöhne 2022 um 4,7 Prozent stiegen.

Die Hans-Böckler-Stiftung ist das Forschungs- und Studienförderungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Die Autoren des WSI werten für den Europäischen Tarifbericht unter anderem Daten der Europäischen Kommission zur Lohn- und Preisentwicklung aus.

Umverteilung zulasten der Löhne

Als Ursache für den bisher beispiellosen Einbruch der Reallöhne nennt der Bericht die hohen Inflationsraten. Diese seien zunächst von den höheren Importpreisen für fossile Energieträger und Nahrungsmittel verursacht worden. Inzwischen würden jedoch die steigenden Unternehmensgewinne zur Inflation beitragen. So seien die sogenannten Kapitalstückkosten im vergangenen Jahr um 7 Prozent gestiegen – mehr als doppelt so viel wie die Lohnstückkosten (3,3 Prozent).

Die höheren Gewinne führen die Autoren des WSI-Tarifberichts auf eine zu hohe Steigerung der Produktpreise zurück und sprachen in diesem Zusammenhang von einer "Umverteilung zulasten der Löhne und zugunsten der Kapitaleinkommen" mitten in der Krise.

Eine Untersuchung der Deutschen Bundesbank habe etwa ergeben, dass die Unternehmen Kostensteigerungen größtenteils an die Verbraucher weitergegeben hätten, Entlastungen jedoch nicht. Auf die Tarifpolitik lasse sich der Preisauftrieb nicht zurückführen, da die Tariflöhne 2022 nur um 2,8 Prozent gestiegen seien und damit unterhalb der stabilitätskonformen Schwelle von 3 Prozent liegen.

Reallohnverluste auch 2023

Auch für das laufende Jahr rechnet die EU-Kommission mit Reallohnverlusten von 0,7 Prozent im EU-Durchschnitt und von 1,3 Prozent in Deutschland. Für die Entwicklung der Kapitalstückkosten wird hingegen mit einer Steigerung im EU-Durchschnitt um 7,6 Prozent gerechnet, in Deutschland um 8,0 Prozent.

Die Kapitalseite, so schlussfolgert der Bericht, habe die Krise durch "überzogene Preisaufschläge" für sich ausgenutzt, während die Arbeitnehmer in Form von "moderaten Tariflohnsteigerungen" zur Preisstabilität beigetragen hätten.

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