Seit drei Tagen kommt es im Norden des Kosovo zu einer Konfrontation zwischen den örtlichen Behörden und Serben, die entgegen dem Willen der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten von Amerika diese Region als einen legitimen Teil Serbiens betrachten. Am Abend des 29. Mai wurden bei Zusammenstößen auf der Straße mehr als 90 Menschen verletzt. RIA Nowosti berichtet über den Hintergrund des Konflikts und über Aussichten für eine friedliche Lösung.
Wahlen sind keine Wahlen
Auslöser der Ausschreitungen waren diesmal die Wahlen für die Gemeinden Nord-Mitrovica, Zvečan, Zubin Potok und Leposavić, die von den dort lebenden Serben ignoriert wurden. Bei einer Wahlbeteiligung von somit nur knapp über drei Prozent gewannen die ethnischen Kosovaren. Die gewählten Ratsmitglieder stießen jedoch auf massive Proteste der dort lebenden Bevölkerung, als sie versuchten, ihre neuen Wirkungsstätten zu betreten. Es war nur durch die Hilfe der Sicherheitskräfte möglich, in die Gebäude zu gelangen.
Offiziell erklärte Belgrad, dass die Serben auf diese Weise Pristina zu einem Dialog einladen und westliche Vermittler um Hilfe bei der Lösung des Konflikts bitten wollten. Die USA und die EU halten die abgehaltenen Wahlen jedoch für völlig rechtmäßig.
Die Polizei versuchte – zusammen mit den westlichen KFOR-Friedenstruppen in der Region –, die protestierenden Menschen mit Tränengas, Gummigeschossen und Blendgranaten zu vertreiben. Die Demonstranten warfen Flaschen und Steine zurück. Dabei wurden rund 50 Zivilisten und mehr als 40 Sicherheitskräfte verletzt.
Zurück in die Zukunft
Der serbische Präsident Aleksandar Vučić sagte in einer Ansprache an die Nation, dass die Behörden des Kosovo seit mehreren Monaten versuchen würden, einen blutigen Konflikt zwischen Belgrad und der NATO zu provozieren. Die KFOR-Friedenstruppen schützten nicht etwa die Zivilbevölkerung, sondern vielmehr die "falschen" Bürgermeister, die mit einer mickrigen Wahlbeteiligung gewählt worden seien.
Vučić betonte, dass Serbien keine Schikanen, Pogrome oder Morde im Kosovo zulassen werde. Bin 30. Mai trifft er mit Vertretern der USA, Großbritanniens, Deutschlands, Frankreichs und Italiens zusammen, um ihnen zu erklären, was im Kosovo vor sich geht. Um den Frieden zu bewahren, müssten die westlichen Politiker die Führer in Pristina beruhigen. Der Präsident werde die nächste Nacht mit seiner Armee an der Grenze zum Kosovo verbringen.
Bislang hat nur Russland sein Mitgefühl für Belgrad zum Ausdruck gebracht. "In der Mitte Europas braut sich eine große Explosion zusammen: An dem Ort, an dem die NATO 1999 ihre Aggression gegen Jugoslawien durchgeführt hat – unter Verletzung aller denkbaren Grundsätze der Schlussakte von Helsinki und der OSZE-Dokumente. Die Situation ist alarmierend, aber der Westen hat einen Kurs der totalen Unterwerfung all jener eingeschlagen, die in irgendeiner Weise ihre eigene Meinung äußern", sagte der russische Außenminister Sergei Lawrow.
Westliche Position
Ein KFOR-Sprecher erklärte, das Friedenskontingent wäre einem "unprovozierten Angriff" ausgesetzt gewesen. Die NATO verurteilte lediglich das Vorgehen der Demonstranten auf das Schärfste und forderte ein sofortiges Ende der Gewalt.
Die Präsidentin Vjosa Osmani der international nur teilweise anerkannten "Republik Kosovo" beschuldigte den serbischen Präsidenten Vučić, die Unruhen und Angriffe auf die Polizei, das KFOR-Kontingent und Journalisten organisiert zu haben. Gleichzeitig bezeichnete sie die serbischen Strukturen im Norden der Region als illegal, da sie sich in "kriminelle Banden" verwandelt hätten.
Das türkische Außenministerium erklärte, Ankara verfolge die Entwicklungen im Kosovo mit Sorge und würde alle Konfliktparteien zum Abbau der Spannungen aufrufen. Die Türkei lobte allerdings auch die "konstruktive Rolle" des Friedenskontingents.
Kein Ausweg
Der Experte Denis Denissow von der Moskauer Finanz-Universität ist der Ansicht, dass Belgrad unter den derzeitigen Umständen kaum Möglichkeiten hat, den Kosovo-Serben zu helfen.
"Wenn man die Armee einsetzt, wird der Westen dies als einen Angriff auf die KFOR, also auf die NATO, verstehen. Das ist das unwahrscheinlichste Szenario. Vučić könnte eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates beantragen. Das wäre eine starke symbolische Geste, würde aber nichts an der Situation ändern", sagte er gegenüber RIA Nowosti.
Denissow zufolge hätten die westlichen Länder mit der Anerkennung der Wahlen im Norden des Kosovo ihre Position deutlich gemacht und werden diese auch nicht ändern. Selbst wenn Belgrad Wirtschaftssanktionen gegen das Kosovo verhänge, habe Pristina genügend Verbündete, um deren Wirkung zu neutralisieren. Ein "Wendepunkt" könnte höchstens das Eingreifen von Mächten wie Russland, China, Indien oder Brasilien darstellen.
Im günstigsten Fall für die Serben würden die von ihnen anerkannten Bürgermeister des Kosovo ihre Ämter rechtlich behalten, aber nach Pristina zurückkehren. Das Nordkosovo würde de facto eine serbische Selbstverwaltung bleiben. Es ist auch möglich, dass die KFOR-Truppen die Demonstranten bei künftigen Protesten auseinandertreiben und die lokale Bevölkerung zwingen, der "gewählten" Führung zu gehorchen.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel erschien zuerst bei RIA Nowosti.
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