Von Dagmar Henn
Die Texte der US-Denkfabrik RAND Corporation sind es meist wert, beachtet zu werden. Nicht, weil sie wesentlich klüger sind als anderes, das aus dem Neocon-Umfeld kommt, sondern weil sie manchmal direkte Vorlagen für die US-Außenpolitik liefern und gelegentlich Einblicke in die inneren Widersprüche der außenpolitischen Blase bieten. Die Studie mit dem Titel "Overextending Russia", die 2019 veröffentlicht wurde, liest sich geradezu wie ein Drehbuch der letzten Jahre. Die neue Studie mit dem Titel "Avoiding a Long War", einen langen Krieg in der Ukraine vermeiden, zeigt, dass zumindest in Teilen des Washingtoner Establishments Überlegungen anfangen, dass man aus dem Projekt Ukraine allmählich aussteigen sollte.
Dabei beruht auch diese Studie zu weiten Teilen noch auf Illusionen; so wird beständig betont, wie erfolgreich die Sanktionen gegen Russland doch gewesen wären. Allerdings erweisen sich diese Illusionen im Gesamtzusammenhang letztlich als nützlich, aber dazu am Schluss der Betrachtung.
"Dieser Krieg", stellen die Autoren fest – zwei Politologen, worüber sich Andrei Martjanow in seiner gewohnten Weise lustig machte –, "ist der bedeutendste zwischenstaatliche Konflikt in Jahrzehnten." Das ist das erste Eingeständnis, das sich in diesem Bericht findet. Das zweite bezieht sich auf das in der Politik stetig wiederholte Mantra, die Ukraine müsse siegen: "dieses optimistische Szenario ist unwahrscheinlich." Und der dritte Punkt, dessen Erwähnung tatsächlich ein erstaunliches Moment von Realismus darstellt: "Es gibt Belege dafür, dass der Kreml diesen Krieg als beinahe existentiell wahrnimmt."
Aufmerksame Leser hätten das Detail, dass es für Russland um existenzielle Fragen geht, bereits den russischen Forderungen im Dezember 2021 entnehmen können, aber im Westen wird weitgehend so getan, als handele es sich nur um eine Rechtfertigung für Aggression und nicht um eine Befürchtung mit handfesten materiellen Grundlagen. Dreh- und Angelpunkt der ganzen Auseinandersetzung um eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ist die Tatsache, dass im Falle einer Stationierung atomwaffenfähiger Raketen auf ukrainischem Gebiet die Vorwarnzeit für Moskau auf wenige Minuten schrumpft.
Zu Zeiten des Kalten Kriegs, als das Bewusstsein für die Risiken einer nuklearen Auseinandersetzung noch höher waren, hätte der Westen noch erkannt, dass eine solche Verkürzung für ihn selbst kontraproduktiv ist, weil das Risiko von Fehlentscheidungen umso höher ist, je kürzer die für eine Entscheidung gegebenenfalls verbliebene Zeit ist. Und während nach Hiroshima und Nagasaki nie wieder ein Befehl zum Einsatz solcher Waffen gegeben wurde, gab es eine ganze Reihe von Ereignissen, bei denen die Menschheit nur mit viel Glück einer versehentlichen Aktivierung des nuklearen Arsenals entging.
Aber zurück zur Studie. Die Ziele werden in solchen Papieren üblicherweise offen, also ohne die ganze "Werte"-Dekoration benannt, und das Ziel der US-Strategie ist, davon wird auch in diesem Papier ausgegangen, die Schwächung Russlands. Dieses Ziel wird als teilweise erreicht betrachtet, weil "Russlands konventionelle Fähigkeiten in der Ukraine dezimiert wurden" und die Sanktionen die russische Wirtschaft geschwächt hätten.
Es müsse sorgfältig abgewogen werden, ob eine längere Fortsetzung des Krieges in der Ukraine mehr nutze oder mehr schade. Dabei bestehe ein Risiko in zweierlei Hinsicht: Zum einen bestehe die Gefahr, dass es doch zu einem offenen Konflikt zwischen Russland und der NATO komme, und zum anderen steige mit der Länge des Konflikts auch das Risiko einer nuklearen Eskalation durch Russland. Das Risiko einer direkten Konfrontation wird dabei als hoch eingeschätzt: "Das Ausmaß, in dem NATO-Alliierte indirekt in den Krieg involviert sind, ist atemberaubend."
Jedes Endergebnis unterhalb der ukrainischen Grenzen von 2014 würde das Ziel nicht erreichen, die "russischen Verletzungen internationaler Normen" aufzuheben. "Und die Kontrolllinie vom Dezember 2022 beraubt Kiew keiner wirtschaftlich bedeutenden Gebiete, die die Existenzfähigkeit des Landes dramatisch beeinflussen würden."
Ausgangspunkt der gesamten folgenden Überlegungen ist also die Kontaktlinie vom vergangenen Dezember; einer der Punkte, die diese Studie so ungewöhnlich machen. "Angesichts der nachlassenden Geschwindigkeit der ukrainischen Gegenoffensive im Dezember 2022 wird es Monate, wenn nicht Jahre dauern, die Kontrolllinie vor dem Februar 2022 – ganz zu schweigen von dem territorialen Status quo vor 2014 – wiederherzustellen."
An diesem Punkt ist die Sicht ungewohnt realistisch. Ebenso, was die Frage der Krim betrifft: "Mehr noch, wenn die Ukraine über die Kontrolllinie vor dem Februar 2022 hinaus vordringt und es ihr gelingt, Gebiete zurückzuholen, die Russland seit 2014 besetzt hält (insbesondere die Krim, wo die russische Schwarzmeerflotte stationiert ist), wird das Risiko der Eskalation – entweder eines Einsatzes von Atomwaffen oder eines Angriffs auf die NATO – einen Gipfel erreichen."
Es geht nicht darum, ob die Begründung realistisch ist oder nicht; entscheidend ist – es wird zumindest offen thematisiert, dass die Krim unter keinen Umständen zu haben ist. Beim gegenwärtigen Geisteszustand des Westens ist das schon härtester Realismus.
Ohnehin sei eines der Hauptziele bereits erreicht: "Es wird Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern, bis sich das russische Militär und die russische Wirtschaft von dem Schaden erholen, der ihnen bereits zugefügt wurde." Auch das Ziel, die europäischen Länder von der russischen Energieversorgung abgeschnitten zu halten, benötige keine weitere Verlängerung des Krieges: "Es ist wahrscheinlich, dass die europäischen Länder diese Politik beibehalten, gleich, wie lange dieser Krieg dauert."
Auf der anderen Seite stünden die zunehmenden Belastungen durch die militärische Unterstützung. "Die Intensität der militärischen Unterstützungsbemühungen könnte nach einiger Zeit auch nicht mehr aufrechtzuerhalten sein. Schon jetzt wird berichtet, dass die Vorräte einiger Waffen in den USA und Europa gering sind. Es gibt also Grund, sich zu fragen, ob ein längerer Krieg zu weiteren ukrainischen Gewinnen führt – Verluste sind ebenfalls möglich."
Gleiches gilt für die finanziellen Leistungen, um die Ukraine am Laufen zu halten: "Die Kosten für die Vereinigten Staaten und die Europäische Union, den ukrainischen Staat wirtschaftlich liquide zu halten, werden sich mit der Zeit vervielfachen, da der Konflikt Investitionen und Produktion verhindert; ukrainische Flüchtlinge können weiter nicht zurückkehren, und im Ergebnis fallen Steuereinnahmen und Wirtschaftsaktivität weit tiefer als vor dem Krieg."
An einem Punkt liefert dieses Papier sogar eine Schätzung für die menschlichen Kosten, die Westeuropa auferlegt wurden: "Allein die Erhöhung der Energiekosten wird wahrscheinlich zu 150.000 zusätzlichen Todesfällen (4,8 Prozent über dem Durchschnitt) in Europa im Winter 2022/23 führen."
Das nächste Argument, das gegen einen langen Krieg ins Feld geführt wird, bezieht sich auf China: "Die Fähigkeit der USA, sich auf ihre anderen globalen Prioritäten zu konzentrieren – insbesondere die Konkurrenz mit China –, wird solange begrenzt bleiben, solange der Krieg die Zeit führender Politiker und militärische Ressourcen der USA absorbiert. (…) Ein längerer Krieg, der Russlands Abhängigkeit [von China] erhöht, könnte China Vorteile in seiner Konkurrenz mit den Vereinigten Staaten verleihen."
Zu guter Letzt wird auch noch die Erwartung eines Regimewechsels in Russland angesprochen und verworfen: "Es gibt wenige historische Belege, die nahelegen, dass ein Regime Change in Russland die notwendige Folge von Fehlschlägen auf dem Schlachtfeld wäre. (...) Mehr noch, es gibt keine Garantie, dass ein neuer russischer Staatschef in irgendeiner Weise eher geneigt wäre, mit der Ukraine Frieden zu schließen, als Putin. Mehr noch, ein Regimewechsel in Moskau muss die Intensität des Wettbewerbs zwischen den Vereingten Staaten und Russland auf anderen Feldern nicht verringern."
Auf dieser Grundlage kommt das Papier zu dem Schluss, dass eine längere Fortsetzung des Konflikts in der Ukraine den Vereinigten Staaten mehr Nachteile als Vorteile brächte, und daher eine Beendigung durch Verhandlungen anzustreben wäre, wobei sowohl die Variante Waffenstillstand als auch die Variante Friedensschluss betrachtet werden.
Eines der Hauptprobleme dabei wäre die Frage der ukrainischen Neutralität. "Russland würde vermutlich in einem Frieden, in dem die Ukraine eine glaubwürdige Zusicherung macht, sich nicht der NATO anzuschließen, einen bedeutenden Nutzen sehen. Aber Russland hat wenig Glauben, dass irgendeine ukrainische Zusage von Neutralität eingehalten würde. Moskau hat Verschiebungen in der ukrainischen Außenpolitik erlebt und hat eine düstere Sicht auf die Fähigkeit der ukrainischen Eliten, Versprechen langfristig zu halten."
In Wirklichkeit ist das Vertrauen in die Führungen der westlichen Staaten auch nicht höher, spätestens seit den Aussagen von Angela Merkel und François Hollande, die im Grunde einen Zustand herbeigeführt haben, in dem es im gesamten Westen keinen vertrauenswürdigen Verhandlungspartner mehr gibt; denn wenn selbst Verträge, die durch den UN-Sicherheitsrat bestätigt wurden, das Papier nicht mehr wert sind, auf dem sie stehen. Aber diese Bemerkung ist das erste Zeichen, dass irgendwo innerhalb der Blase, die die US-Außenpolitik steuert, wahrgenommen wird, dass es da ein Problem gibt.
Die ukrainische Seite müsse mit entsprechendem Druck überzeugt werden: "Hilfe mit der ukrainischen Bereitschaft zu Verhandlungen zu verknüpfen, war in der westlichen Politikdebatte ein Anathema, und das aus gutem Grund: Die Ukraine verteidigt sich gegen eine unprovozierte russische Aggression. Die Berechnungen der USA mögen sich jedoch ändern, wenn Kosten und Risiken des Kriegs steigen."
Inzwischen sind wir mit den Überlegungen von RAND genau bei den Punkten angekommen, die im vorletzten Dezember auf dem Tisch gelegen hatten, und noch ein Stück darüber hinaus – bis Ende Februar hatten für Russland die Minsker Vereinbarungen als Richtschnur gegolten. Es hätte nie einen russischen Militäreinsatz gegeben, hätte sich irgendeine der westlichen Mächte ernsthaft für diese Vereinbarungen eingesetzt, beispielsweise, indem Hilfe von ukrainischer Verhandlungsbereitschaft abhängig gemacht worden wäre. Nach elf Monaten, nachdem zwei komplette ukrainische Armeen aufgerieben wurden, kommt ein US-Thinktank darauf, man könnte das russische Verlangen nach ukrainischer Neutralität ernst nehmen.
Sogar die Verhandlungen in Istanbul, die damals von Boris Johnson sabotiert wurden, werden erwähnt: "Als Teil des Istanbuler Kommuniqués hätte Russland eine völkerrechtliche Verpflichtung der Vereinigten Staaten und mehrere NATO-Alliierter auf ukrainische Neutralität erhalten, zusätzlich zur eigenen Verpflichtung der Ukraine. Eine entsprechende Verpflichtung auf die Neutralität der Ukraine durch die USA und ihre Verbündeten würde eine größere zusätzliche Hürde – einen Wechsel in der westlichen Politik oder sogar dem Recht, abhängig von der Natur der Verpflichtung – für einen Beitritt der Ukraine schaffen. Ein solches Versprechen könnte das Problem lösen, das für Russland in der Glaubwürdigkeit dieser Zusicherung besteht."
Während die gesamte politische Rhetorik des Westens immer noch auf einen militärischen Sieg der Ukraine gerichtet ist, dessen Möglichkeit in diesem Papier relativ knapp abgefertigt wurden, werden hier auch Geländegewinne als zweifelhaftes Ziel gesehen: "Kontrolle über Territorium ist, auch wenn sie für die Ukraine sehr wichtig ist, nicht die wichtigste Dimension in der Zukunft des Krieges für die Vereinigten Staaten. Wir schließen, dass es für die Vereinigten Staaten, neben der Verhinderung einer möglichen Eskalation in einen Krieg zwischen Russland und der NATO und eines russischen Einsatzes von nuklearen Waffen, eine höhere Priorität hat, einen langen Krieg zu vermeiden, als der Ukraine die Kontrolle über bedeutend mehr Gebiet zu ermöglichen."
Das Gesamtpaket, das in dieser RAND-Studie vorgeschlagen wird, läuft also auf Verhandlungen auf der Grundlage der Frontlinie vom 22. Dezember hinaus, unter Garantien für eine dauerhafte Neutralität der Ukraine. Selbst weitere Zugeständnisse sind möglich: "Die Fähigkeit der USA, im Detail zu beeinflussen, wo die Linie letztlich gezogen wird, ist sehr begrenzt, da das US-Militär nicht direkt an den Kämpfen beteiligt ist."
Natürlich wäre eine solche Kehrtwende nicht leicht zu erreichen: "Eine dramatische Veränderung der US-Politik gleichsam über Nacht ist politisch unmöglich – sowohl innenpolitisch als auch mit den Verbündeten – und wäre in jedem Fall unklug. Aber diese Instrumente jetzt zu entwickeln und die Ukraine und die US-Verbündeten damit vertraut zu machen, mag helfen, den eventuellen Beginn eines Prozesses zu befördern, der diesen Krieg in einem Zeitrahmen zu einem verhandelten Ende bringt, der den US-Interessen nützt. Die Alternative ist ein langer Krieg, der die Vereinigten Staaten, die Ukraine und den Rest der Welt vor größere Herausforderungen stellt."
Wie lautet nach Martjanow die Formel, mit der die USA ihre Kriege beenden? Den Sieg erklären und sich zurückziehen. Dieses Papier der RAND-Corporation ist unverkennbar eine Reaktion auf die drohende westliche Niederlage, das zeigt sich allein an den Unterschieden zu den russischen Vorschlägen vom Dezember 2021: immerhin ganz Lugansk und größere Teile von Donezk, Saporoschje und Cherson. Auch wenn es äußerst unwahrscheinlich ist, dass Russland darauf einginge, schon allein, weil das Vertrauensproblem noch weit größer ist als von den Autoren wahrgenommen – das wirklich Interessante ist, dass in diesem Papier die Linie entwickelt wird, wie die USA ihre Niederlage als Sieg verkaufen könnten. So absurd das klingt, ist es exakt dieser Punkt, der dem Papier durchaus eine gewisse Wirksamkeit verleihen könnte. Es ist das erste Eingeständnis der westlichen Niederlage, mit genug Zuckerguss umhüllt, dass selbst Angehörige des politischen Establishments der USA diese bittere Pille schlucken könnten.
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