Am Samstagnachmittag wurden durch eine verheerende Raketenexplosion offenbar tragende Elemente im unteren Bereich eines Wohnhauses in Dnjepropetrowsk beschädigt. Daraufhin kam es zum Einsturz eines Teils des Hauses, wodurch mindestens 25 Menschen getötet wurden. Dutzende Bewohner gelten noch immer als vermisst. Die Bergungsarbeiten dauern weiterhin an.
Schnell beschuldigte der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij Russland eines gezielten, "terroristischen" Angriffs auf ein Wohnhaus. Westliche Medien und Politiker übernahmen diese Version der Ereignisse ungeprüft und berichteten, Russland habe eine "terroristische" Attacke auf ein Wohnhaus ausgeführt und damit schwere Kriegsverbrechen begangen. Nach ukrainischen Angaben sei der russische Marschflugkörper des Typs X-22 in das Haus eingeschlagen.
Noch am selben Abend räumte der Berater des ukrainischen Präsidentenamtes Alexei Arestowitsch jedoch in einem auf Youtube ausgestrahlten Live-Gespräch ein, dass die Tragödie durch die ukrainischen Luftabwehrkräfte ausgelöst worden sei. Man habe eine Rakete abgeschossen, die über die Stadt geflogen sei, aber das Projektil sei in einem Hauseingang eingeschlagen und detoniert. Arestowitsch betonte:
"Die Rakete, die über Dnjepr flog, wurde abgeschossen. Sie explodierte, als sie auf den Hauseingang traf."
Dies erklärte Arestowitsch, als sein täglicher Gesprächspartner, der proukrainische Aktivist Mark Fejgin, ebendiese Möglichkeit anzweifelte.
Ein auf sozialen Medien geteiltes Augenzeugenvideo bestätigte, dass die Luftabwehr in unmittelbarer Nähe zum Ort des Einschlags tätig war. Kurz bevor der Kampfteil der Rakete auf dem Boden einschlug, gab es ein charakteristisches Geräusch und einen Blitz im Himmel über der Wohngegend. Offenbar änderte die Rakete sofort ihre Flugbahn und schlug fehlgeleitet mitten im Wohngebiet ein.
Auch früher gab es im Kontext der Luftverteidigung gegen russische Raketenangriffe ähnliche Vorfälle in Kiew und anderen ukrainischen Städten. Im Frühjahr schoss eine ukrainische Luftabwehrrakete einen rumänischen Hubschrauber ab, im November traf eine weitere ein polnisches Dorf im Grenzgebiet zur Ukraine und tötete zwei Menschen.
Später schrieb Arestowitsch auf Facebook, dass Russland letztlich für die Todesfälle verantwortlich sei. "Jeder versteht vollkommen, dass die Tragödie nicht passiert wäre, wenn es nicht den russischen Angriff gegeben hätte." In seiner Argumentation erwähnte er den Abschuss des polnischen Territoriums.
"Niemand wird der Ukraine die Schuld geben. Genauso wenig wie die Ukraine beschuldigt wurde, als unsere Luftabwehrrakete in Polen einschlug und zwei polnische Bürger tötete", fügte Arestowitsch hinzu.
Damals hat die Ukraine ihre Beteiligung an dem Vorfall lange bestritten. Polnische Beamte erklärten jedoch, das Geschoss sei höchstwahrscheinlich von ukrainischen Streitkräften abgefeuert worden, die einen russischen Angriff abzuwehren versuchten. Präsident Selenskij behauptete zunächst, Polen sei "von russischen Raketen getroffen" worden, erklärte jedoch später, dass weitere Untersuchungen erforderlich seien, um den Vorfall zu klären.
Auch russische Quellen widersprachen der ukrainischen Darstellung, dass es sich am Samstag um einen gezielten Angriff auf das Wohnviertel gehandelt habe. In russischen sozialen Netzwerken herrschte Bestürzung und es wurden Beileidsbekundungen für die Opfer der Tragödie ausgesprochen.
Der Militärexperte und ehemalige Mitarbeiter des ukrainischen Nachrichtendienstes Arestowitsch stieg in den vergangenen Jahren zu einer einflussreichen Medienpersönlichkeit auf. Im Jahre 2018 sagte er in einem Interview die russische Militäroperation in der Ukraine und ihren anfänglichen Verlauf voraus, auf der Grundlage, dass Russland nicht zulassen könne, dass die Ukraine zu einem NATO-Mitglied wird.
Da Arestowitsch am Samstag der offiziellen Darstellung Kiews widersprach, wonach die russischen Streitkräfte die Rakete unmittelbar auf ein Wohnhaus abgefeuert haben, wurde er in der Ukraine heftig angegriffen und sogar der heimlichen Parteinahme für die russische Seite beschuldigt.
"Ich habe seit dem ersten Tag des Krieges gesagt, dass Arestowitsch ein narzisstisches Gesindel und ein Klosettmaul ist", schrieb der Oberbürgermeister von Dnjepropetrowsk, Boris Filatow, auf Telegram. Er rief den ukrainischen Sicherheitsdienst SBU und die Spionageabwehr dazu auf, sich mit dem Fall zu befassen.
Am Sonntag griff er das Thema erneut auf und betonte, dass sogar Befehlshaber der ukrainischen Luftwaffe die Behauptungen von Arestowitsch dementieren mussten. "Ich erkläre offen, wie vor Gott, dass der Raketeneinschlag direkt war. Keine Luftabwehr", fügte Filatow hinzu.
Der Regionalpolitiker fiel schon früher durch radikale Äußerungen auf, einschließlich des Aufrufs zum Mord. Berühmt-berüchtigt wurde Filatow im Jahr 2014, als er sagte, dass man prorussische Donbass-Einwohner mit falschen politischen Versprechungen irreleiten sollte. "Geben wir dem Abschaum alle Versprechen, die wir geben können. Später werden wir sie sowieso aufhängen", so Filatow.
Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, griff das Thema in einem Kurzkommentar auf. "Erst schoss die ukrainische Luftabwehr eine Rakete über einem Wohnhaus in Dnjepropetrowsk ab, dann wieder nicht", schrieb sie auf Telegram. Danach sei Arestowitsch angeblich beinahe zu einem Agenten des Kreml erklärt worden. Sacharowa widersprach diesem Vorwurf und deutete auf angebliche Kokain-Abhängigkeit Selenskijs hin:
"Nein, auf keinen Fall. Er ist das Gesicht des Kiewer Regimes. Selenskij ist die Nase und Arestowitsch ist das Gesicht."
Zuletzt änderte Arestowitsch seine Aussage erneut und erklärte, dass er die Beteiligung der ukrainischen Luftabwehr an dem Vorfall nur vermutet habe. Er habe im Gespräch mit Fejgin erwähnt, dass eine detaillierte Untersuchung notwendig sei.
Aber auch offizielle Sprecher der ukrainischen Armee lieferten am Samstag widersprüchliche Angaben. So sagte der Befehlshaber der ukrainischen Luftwaffe, Generalleutnant Nikolai Oleschtschuk, in einer Erklärung, dass die ukrainische Luftabwehr gar nicht fähig sei, die russischen Raketen X-22 abzufangen.
"Es besteht kein Zweifel, dass es sich um eine X-22-Rakete handelte. Die ukrainischen Streitkräfte verfügen über keine Feuerkraft, die diesen Raketentyp abschießen könnte. Seit Beginn der russischen Militäraggression wurden über 210 Raketen dieses Typs auf ukrainisches Territorium abgefeuert. Keine einzige wurde von der Luftabwehr abgeschossen", sagte Oleschtschuk und betonte, dass nur westliche Systeme wie Patriot PAC-3 oder SAMP-T solche Raketen abfangen können.
Früher haben die ukrainischen Offiziellen den Abschuss der X-22-Raketen mehrfach gemeldet und diese Angaben in grafische Darstellungen übernommen, wie auf diesem auf sozialen Netzwerken geteilten Bild:
Inzwischen äußerten mehrere Militärspezialisten im Netz Zweifel daran, dass es sich bei der Rakete, die in Dnjepropetrowsk einschlagen ist, um eine X-22 handelt. Viel eher sei es eine "Kalibr" gewesen, die durch die Luftabwehr fehlgeleitet wurde.
Seit Beginn der russischen Militäroperation bestreitet Moskau vehement, je zivile Ziele wie Wohnhäuser oder Schulen und Krankenhäuser gezielt beschossen zu haben. Dies gilt jedoch nicht, wenn diese Einrichtungen von der ukrainischen Seite zu Militärobjekten umfunktioniert worden sind.
Seit Oktober greift Moskau systematisch Objekte ukrainischer Infrastruktur mit Präzisionswaffen wie Marschflugkörper oder Kampfdrohnen an. Das Ziel der Rakete, die am Samstag über Dnjepropetrowsk flog, könnte deshalb ein Objekt der ukrainischen Energie-Infrastruktur gewesen sein, wie etwa ein Umspannwerk oder ein Wärmekraftwerk. Die Stadt Dnjepropetrowsk ist ein wichtiger Energie-Lieferant und Standort der Industrie.
Die russischen Autoren diskutieren im Netz über die Sinnhaftigkeit der von der Ukraine unterstellten russischen Angriffe gegen ukrainische Zivilisten. Aus der Sicht des russischen Schriftstellers und Politikers Sachar Prilepin sei es teuer, dumm und unsinnig, mit einem Marschflugkörper ein Wohnhaus zu beschießen, "während 99 andere Raketen auf Infrastruktur zielen". Er kommentierte:
"In der Zwischenzeit ist es ein Jahr her, dass die Russen dies absichtlich NICHT tun und es sogar schaffen, Dutzende Raketen abzuschießen, ohne auch nur das Personal der Wärmekraftwerke zu treffen".
Er beschuldigte die ukrainische Seite der wiederholten Verbreitung von Fake News und der Unfähigkeit, die Wahrheit anzuerkennen.
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