Die britische Tageszeitung Financial Times hat zum Jahresende den ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij zu ihrer persönlichen "Person des Jahres" gekürt. Der Prämierte verkörpere demnach "heute den Mut und die Widerstandsfähigkeit des ukrainischen Volkes". Weiter heißt es in der Begründung:
"Seine Entscheidung, in Kiew zu bleiben, anstatt ein Evakuierungsangebot der USA anzunehmen, war einer der folgenreichsten Momente des Krieges."
Der dazugehörige sehr ausführliche Artikel (Bezahlschranke) beginnt mit Details im Stil des klassischen Boulevard-Journalismus:
"Neun Monate nach dem brutalen Kampf um das nationale Überleben gegen die russischen Invasoren sieht Wladimir Selenskij müde aus und hat dunkle Ringe unter den Augen. Anstatt sich mit dem gnadenlosen Eindringling anzulegen, würde er gerne mit seinem Sohn angeln gehen. 'Ich möchte nur einen Karpfen im Fluss Dnjepr fangen', sagt er."
Zu der Person Selenskij und seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin heißt es in der Financial Times:
"Er (Selenskij) ist das Spiegelbild des fiktiven Präsidenten, den er in einer satirischen Fernsehserie spielte, die ihn berühmt machte. Er ist auch das Gegenbild des russischen Präsidenten Wladimir Putin, der sich im Kreml versteckt hält und dessen Besessenheit, ein Imperium wieder aufzubauen, Zehntausende, wenn nicht Hunderttausende von Menschenleben gekostet hat."
Der Artikel nutzt dann historische Vergleichsmomente des Angriffs Hitlerdeutschlands auf Großbritannien im Zweiten Weltkrieg:
"So wie Winston Churchill während des Blitzkriegs über das Radio sein Land zusammenrief, hat Selenskij die sozialen Medien genutzt, um unermüdlich für westliche militärische und finanzielle Unterstützung zu werben und die Notlage seines Volkes in ein moralisches Druckmittel gegenüber führenden Politikern in Europa und den USA zu verwandeln. Er hat die Europäer davon überzeugt, die enormen Kosten für den Widerstand gegen Putin zu übernehmen und Kiew einen Weg zur EU-Mitgliedschaft anzubieten."
Die Financial Times zitiert Auszüge aus einem aktuell geführten Gespräch mit dem Prämierten:
"In einem Interview mit der FT erinnert sich Selenskij an die ersten Tage der Invasion und sagt, er sei nicht wirklich mutig: 'Ich bin eher verantwortungsbewusst als mutig. (...) Ich hasse es einfach, Menschen im Stich zu lassen.'"
Laut dem "mächtigen" ukrainischen Stabschef Andrei Jermak habe er "westlichen Journalisten" bereits vor drei Jahren angekündigt, dass "unser Präsident der berühmteste und stärkste Führer seiner Zeit sein wird". Nach dem Beginn des kriegerischen Konflikts mit Russland hätten "einheimische Kollaborateure, die sich in die Reihen des ukrainischen Sicherheitsdienstes eingeschleust und sich in sicheren Häusern in der Nähe des Regierungsviertels verschanzt hatten, versucht, sein (Selenskijs) Büro zu stürmen", so Jermak gegenüber der Financial Times:
"Sie hatten keinen Erfolg, aber es war eine knappe Angelegenheit."
EU-Staats- und Regierungschefs seien "entsetzt" gewesen, als Selenskij ihnen dann über eine Videoverbindung mitteilte, "dass es das letzte Mal sein könnte, dass sie ihn lebend sehen". Weiter heißt es im bereits erwähnten Boulevard-Stil:
"Doch später in der Nacht schickte Selenskij, der im Freien in der Nähe des Präsidentenbüros stand und von seinen engsten Beratern flankiert wurde, per Video-Selfie eine Botschaft, die Millionen von Ukrainern hören wollten: 'Der Präsident ist hier. Wir sind alle hier. Unsere Soldaten sind hier.'"
In der Schule sei er der Liebling der Lehrer gewesen, so Selenskij im Interview mit der Financial Times, weil er "sehr zuverlässig und lustig war". Selenskij wörtlich:
"Alle liebten mich. Ich war die Energie in jeder Gruppe."
Julija Mendel, von 2019 bis 2021 Selenskijs Pressesprecherin, wird im Artikel mit der Erklärung zitiert:
"Er ist ein Mensch des Chaos. Im Krieg herrscht das Chaos. Er fühlt sich zu Hause."
Selenskij behauptet im Interview, dass "Kiew trotz der öffentlichen Warnungen westlicher Offizieller nie nachrichtendienstliche Informationen über den bevorstehenden russischen Angriff erhalten hat, auf die es hätte reagieren können". Und weiter:
"Niemand hat uns konkretes Material gezeigt, das besagt, dass der Angriff aus dieser oder jener Richtung kommen würde."
Selenskij behauptet des Weiteren dann eher widersprüchlich, dass er im Vorfeld der "Invasion" wiederholt versucht habe, "Putin anzurufen". Dazu heißt es:
"Er wollte ihm sagen, dass es ein 'großer Fehler, eine große Tragödie' sei, aber der russische Führer nahm seine Anrufe nicht entgegen. 'Wir kämpfen gegen Wahnsinnige', sagt Selenskij über die russische Führung."
Es gebe laut der Financial Times "bereits leise Rufe nach Verhandlungen mit Russland", die Selenskij jedoch zurückweise. Als Begründung heißt es:
"Die Welt ist kein Arzt mit großer Erfahrung, sie ist nicht Putins Arzt, und Putin ist kein Patient dieser Welt."
Seinen Humor habe der ukrainische Präsident in den letzten Monaten jedoch nicht verloren. Daher sei in der Gesamtbetrachtung die Prämierung mehr als verdient. Der Artikel endet mit dem Absatz:
"In der vergangenen Woche waren nach russischen Raketenangriffen Millionen von Ukrainern und weite Teile des Landes, darunter auch die Hauptstadt, mehr als 24 Stunden lang ohne fließendes Wasser, nachdem die Stromversorgung unterbrochen worden war. Das Büro des Präsidenten war keine Ausnahme. Selenskij erinnert sich schmunzelnd daran, wie ein Besucher seines Büros darum gebeten hatte, seine Toilette zu benutzen. "Ich lehnte ab. Ich sagte: 'Ich weiß, wie es in einigen Stunden sein wird.' Das war sehr lustig."
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