EU-Kommission zu drohendem Gasnotstand: "Arbeiten an dem schlimmstmöglichen Szenario"

Die EU-Kommission will am Mittwoch Vorschläge für den Fall eines Gaslieferstopps vorlegen. Anders als Berlin warnt Ursula von der Leyen vor einer Abschaltung russischen Gases. Im Fall eines Gasnotstands sollen EU-Staaten nach dem Willen der Kommission zum Gassparen gezwungen werden können.

EU-Kommissare arbeiten derzeit an einem Plan, der sicherstellen soll, dass ein möglicher Lieferstopp für Erdgas im nächsten Winter zu einem Kollaps der Industrie führt und die Haushalte zusätzlich frösteln lässt.

"Wir arbeiten an dem schlimmstmöglichen Szenario", sagte EU-Sprecher Eric Mamer. "Und dieses Szenario – eine Annahme also – ist, dass Gazprom kein Gas mehr nach Europa liefern würde.

"Wir haben bereits zwölf Länder oder in bestimmten Fällen Unternehmen innerhalb von Ländern, die von einem Tag auf den anderen Unterbrechungen erlebt haben, entweder ganz oder teilweise von Gas von Gazprom", so Mamer. Es sei unmöglich vorherzusagen, wie Gazprom handeln werde. Dabei hat Moskau jüngst darauf verwiesen, dass Lieferverträge bisher immer eingehalten wurden und das auch künftig der Fall sein wird, wenn die Voraussetzungen dafür bestehen.

Die Europäische Kommission wird ihre Vorschläge im Laufe des Mittwochs vorlegen, damit die EU-Mitgliedsstaaten sie auf einer Dringlichkeitssitzung der Energieminister am kommenden Dienstag diskutieren können. Damit der Vorschlag angenommen werden kann, müssten die Staaten in Betracht ziehen, ihre Befugnisse in der Energiepolitik an Brüssel abzugeben. Bisher haben die Mitgliedsländer ihre nationalen Befugnisse in Energiefragen zumeist verteidigt.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen warnte am Mittwoch: "Wir müssen uns auf eine mögliche vollständige Unterbrechung der russischen Gasversorgung vorbereiten. Dies ist ein wahrscheinliches Szenario." Russland versuche demnach, Druck auf die EU auszuüben. Ein kompletter Lieferstopp würde von der Leyen zufolge alle EU-Staaten schwer treffen, da sei jetzt Solidarität gefragt.

Allerdings versucht die EU-Kommission offenbar, eine Lösung in Form von Energieeinsparungen notfalls mit Zwang zu erreichen: Im Fall eines Gasnotstands sollen EU-Staaten nach dem Willen der Europäischen Kommission zum Gassparen gezwungen werden können. So schlug die Brüsseler Behörde am Mittwoch vor, dass verbindliche Reduktionsziele möglich sein sollen, wenn freiwillig nicht genug gespart wird. Zunächst sollen die EU-Länder freiwillig alles dafür tun, ihren Verbrauch in den kommenden Monaten um 15 Prozent im Vergleich zum Schnitt der vergangenen fünf Jahre zu reduzieren. Die EU-Staaten müssen dem Vorhaben noch zustimmen. Voraussetzung für die Einführung von verpflichtenden Einsparzielen wäre, dass mindestens drei Staaten oder die EU-Kommission wegen einer Unterversorgung mit Gas akute Notsituationen befürchten. Ob und in welchem Umfang Deutschland seinen Gasverbrauch weiter senken muss, um das 15-Prozent-Ziel zu erreichen, war zunächst unklar.

Bisher hat die Behörde zur Lösung der möglicherweise für die Industrie bedrohlichen und für die Bevölkerungen schwerwiegenden Konsequenzen beispielsweise den Vorschlag angeführt, die Heiztemperatur in Büros und öffentlichen Gebäuden auf 19 Grad abzusenken – eine Idee, die allerdings bereits vor Monaten eingebracht wurde. "Die Vorschläge wirken mutlos, gar verzweifelt", kritisiert der grüne Europaabgeordnete Michael Bloss. Der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber nannte die Vorschläge eine "Aneinanderreihung von Hausfrauentipps".

Der russische Erdgasriese Gazprom hat im vergangenen Monat die Gaslieferungen durch die Nord Stream 1-Pipeline nach Deutschland um 60 Prozent reduziert und begründete dies mit technischen Problemen, nachdem eine Turbine, die Siemens zur Überholung nach Kanada geschickt hatte, wegen der Sanktionen nicht zurückgeschickt werden konnte.

Russlands Präsident Putin betonte am Dienstag, dass die Lieferungen von russischem Erdgas zu europäischen Abnehmern durch eigenes Verschulden des Westens zurückgegangen seien, und warnte davor, dass sie weiter abnehmen könnten. In Teheran, wo er an den Gesprächen mit den Staats- und Regierungschefs Irans und der Türkei teilnahm, sagte Putin vor russischen Reportern, die durch die Nord-Stream-Pipeline nach Deutschland gepumpte Gasmenge werde weiter von 60 Millionen auf etwa 30 Millionen Kubikmeter pro Tag oder etwa ein Fünftel ihrer Kapazität sinken, wenn die Turbine nicht schnell ersetzt werde. Es gebe fünf Gaspumpeinheiten, die von Siemens Energy bei Nord Stream 1 betrieben werden, während eine weitere Einheit wegen "Bröckelns der Innenauskleidung" außer Betrieb sei.

Putin hatte entgegen europäischer Befürchtungen, dass Russland den Gashahn nicht wieder aufdrehen könnte, Lieferungen nach der Wartung angedeutet. "Gazprom erfüllt seine Verpflichtungen, hat sie stets erfüllt und ist gewillt, weiterhin alle seine Verpflichtungen zu erfüllen", zitiert ihn die russische Agentur Interfax. Er warnte zugleich vor einem Absenken der Liefermenge. Sollte Russland die in Kanada reparierte Turbine nicht zurückerhalten, drohe Ende Juli die Durchlasskapazität nochmals deutlich zu fallen. Denn selbst wenn Nord Stream 1 am 21. Juli wieder in Betrieb genommen wird, kann Gazprom nur 40 Prozent davon nutzen, da die benötigte Siemens-Turbine aufgrund der Sanktionen noch nicht zurückgegeben wurde.

Nach wochenlanger Unsicherheit hat Kanada in dieser Woche eine gewartete Turbine – aufgrund der Sanktionen über Deutschland – nach Russland zurückgeschickt. Allerdings hat Gazprom am heutigen Mittwoch von Siemens noch keine offiziellen Unterlagen über die Turbine für Nord Stream erhalten, die nach kanadischen Angaben zurückgeschickt wurden, und hat diese erneut angefordert. Das Unternehmen wies darauf hin, dass sich die Garantien für die Rückgabe der Ausrüstung nach der Reparatur direkt auf den Betrieb der Pipeline auswirken, wie auch auf die Überholung anderer Turbinen.

Das Bundeswirtschaftsministerium äußerte sich laut Berichten vom Mittwoch weiterhin nicht dazu, wo sich die Turbine befindet, und verwies auf Sicherheitsfragen. Eine Sprecherin sagte, dass es sich um einen Vorwand der russischen Seite handele und der Einsatz einer Ersatzturbine für September bestimmt gewesen sei.


Das Ministerium bekräftigte außerdem, dass die Gas-Pipeline Nord Stream 2 nicht zertifiziert und damit rechtlich nicht zugelassen sei. Der russische Staatschef hatte erwähnt, dass die vor Kurzem fertig gestellte Nord Stream 2-Pipeline in Betrieb genommen werden könnte, wies aber darauf hin, dass sie nur über die Hälfte der vorgesehenen Kapazität verfüge, da der Rest für den Inlandsbedarf verwendet werde. Auch in Deutschland hatten Politiker verlangt, dass Nord Stream 2 genutzt wird.

Trotz wochenlanger Bemühungen um andere, teils höchst umstrittene Energiequellen und -lieferanten ist absehbar, dass es im Winter für die meisten EU-Staaten schwierig wird, ohne russische Energielieferungen in gewohntem Umfang die Industrie am Laufen zu halten und gleichzeitig die Bevölkerung gut durch den Winter zu bringen.

Gerade erst hat der Internationale Währungsfonds (IWF) in einem Blogbeitrag vor den bereits jetzt sich abzeichnenden drastischen wirtschaftlichen Folgen einer Drosselung russischer Energielieferungen gewarnt:

"Die teilweise Unterbrechung der Gaslieferungen beeinträchtigt bereits das europäische Wachstum, und eine vollständige Unterbrechung könnte noch wesentlich schwerwiegender sein", warnte der IWFBlog. Das Bruttoinlandsprodukt in Mitgliedsstaaten wie Ungarn, der Slowakei und der Tschechischen Republik könnte demnach um bis zu sechs Prozent schrumpfen. Italien, ein Land, das bereits mit ernsten wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat, würde "ebenfalls mit erheblichen Auswirkungen konfrontiert werden".

Aus den EU-Wirtschaftsprognosen der vergangenen Woche ging hervor, dass die wirtschaftliche Erholung auf absehbare Zeit durch den Krieg in der Ukraine beeinträchtigt wird, mit einem geringeren jährlichen Wachstum und einer rekordhohen Inflation. Unterbrechungen im russischen Energiehandel drohen eine Rezession in der EU auszulösen, die sich gerade erst von einem pandemiebedingten Einbruch erholt.

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