Der enthauptete Golem: Was wäre, wenn Deutschland die EU verlassen würde?

Die unplausiblen und trotzigen Schritte Brüssels – besonders in der sich selbst verstümmelnden Energieversorgungs- und Ernährungspolitik – lassen am Fortbestehen der EU selbst zweifeln. Könnte die EU dann noch funktionieren und könnte Deutschland bei einem Austritt ungeschoren davonkommen?

Ein Gedankenspiel von Elem Raznochintsky

Was wäre, wenn Deutschland die EU verlassen würde? Wäre ein Fortbestand des hierzulande bisher noch beliebten Staatenbündnisses überhaupt möglich – ohne die Bundesrepublik als EU-Gründungsmitglied? Abgesehen von den offensichtlichen Voraussetzungen – wie einem politischen Willen der Exekutive und einer Unterstützung der anderen Gewalten sowie einem klaren Volkswillen – bräuchte es auch externe Umstände, um einem solchen vielschichtigen politischen Ablauf den Weg zu bereiten.

Berlin als Hauptschlagader "europäischer Integration"

Bevor man über mögliche Szenarien spekuliert, wie genauund ob überhaupt – Deutschland die Europäische Union verlassen könnte, sollte man sich darüber bewusstwerden, wie sehr es deutsche Politiker waren, welche die EU in ihrer Entwicklung, ihrem territorialen und ideologischem Wachstum, historisch vorangetrieben haben. Klar kann man dies als "imperialistische Expansion" betiteln, aber hierzulande hört man lieber die Losung von der "europäischen Integration".

Deutschlands Verpflichtung gegenüber der EU als ein ideologisches Prinzip dringt tief: Es wird in allen politologischen Entscheidungs- und Indoktrinierungszentren Europas als ein Hauptmotiv der "Wiedergutmachung" und "Sühne" für die Nazi-Ära Berlins angesehen. Auch nur ein Flüstern von offizieller deutscher Stelle, zum Beispiel aus dem Kanzleramt, über einen Kurswechsel oder einen Zweifel an dieser Orientierung, würde europaweite Empörung entfachen. Es scheint keinen dritten Weg zu geben. Zumal die Bundesrepublik Deutschland bereits als Gründungsmitglied der 1951 geschaffenen "Montanunion" ein wichtiger Eckpfeiler der heutigen EU wurde.

Die Umstände also, die nötig wären, um diese Nabelschnur dennoch zu durchtrennen, müssten extrem sein, würden von Chaos begleitet sein und an der Existenz der deutschen Gesellschaft selbst rütteln.

Ferner würde es sich in jedem der Fälle um eine äußerst schwere Geburt handeln – Kaiserschnitt, künstliche Beatmung oder örtliche Betäubung blieben ausgeschlossen.

Rein formal müsste sich die Berliner "Ampel"-Regierung des Artikels 50 des EU-Vertrages bedienen und beim Europäischen Rat eine unmissverständliche, schriftliche Absichtserklärung zum EU-Austritt einreichen. Dafür wäre natürlich ein vorhergehendes Referendum als Legitimation empfehlenswert, um unnötige Widerstände und Missverständnisse in der Kommunikation mit der eigenen Bevölkerung zu vermeiden. Das wäre aber nur die Theorie.

Jedoch seien Volksabstimmungen in dieser Kernfrage, wie auch beim britischen Beispiel von 2016, zumindest rechtlich "unzulässig", erinnert uns die Bundeszentrale für politische Bildung freundlich. Eine Sollbruchstelle wäre dagegen die einzigartige Gelegenheit einer deutschen Volksabstimmung über eine neue deutsche Verfassung, die das jetzige Grundgesetz ablösen würde. Denn eine solche neue Verfassung könnte dann das Plebiszit als politisches Mittel des Volkes aus der bisherigen grundgesetzlich verhängten Beschränkung freisetzen.

Der erste Husten

Genau genommen käme es zu zwei Hustenanfällen. Der erste Husten, für den es eines langen Luftholens bedurfte, war Angela Merkels Kanzler-Epoche, in der Zeit von 2005 bis 2021. Noch 2011 hatte Merkel öffentlich auf dem Evangelischen Kirchentag in Dresden erklärt, worin ihrer Meinung nach das Prinzip "europäischer Integration" besteht:

"Und das ist der vielleicht spannende Schritt, den wir Europäer ja schon gewohnt sind. Wir haben lauter Souveränität an die Europäische Kommission abgegeben. Manchmal sind wir sauer darüber, aber wir haben’s gemacht. Und andere Länder sind daran überhaupt noch nicht gewöhnt."

Daraufhin erläuterte die Bundeskanzlerin weiter:

"Wenn man eine wirkliche Weltordnung haben will, eine globale politische Ordnung, dann wird man nicht umhinkommen, an einigen Stellen auch Souveränität, Rechte an andere abzugeben. Das heißt, dass andere internationale Organisationen uns dann bestrafen können, wenn wir irgendetwas nicht einhalten. Und davor schrecken viele Länder noch zurück. Das ist aus meiner Sicht ein wirklich interkultureller Prozess, den wir durchlaufen müssen."

Dieser "interkulturelle Prozess", wenn auch bereits sehr intensiv zu Merkel-Zeiten vollzogen, wurde von der "Ampel"-Regierung seit 2021 in den höchsten Gang geschaltet. Damit ist gemeint, was erst kürzlich Tony Blair – im Kontext eines drohenden Verlustes der westlichen Vormachtstellung – als unvermeidliche Notwendigkeit weiterer Anwendung von kultureller "soft power" beschrieben hatte. Nämlich als die langfristige Propagierung sogenannter "westlicher Werte" als unantastbare Axiome, zu denen mehr und mehr Länder verpflichtet werden sollen.

Noch einmal anders gesagt: die Fähigkeit westlicher Institutionen, "westliche Werte und Tugenden" mittels aller zugänglichen Medien-Disziplinen als begehrte Maximen auch in solchen Regionen zu bewerben, die sich bisher ihrem direkten Einfluss entziehen.

Auf dem europäischen Kontinent spielt Deutschland in diesem Prozess seit langer Zeit eine zentrale, die führende Rolle. 

Der zweite Hustenanfall ist die Coronakrise, wodurch die vorgeblichen Axiome liberaler, repräsentativer, westlicher Demokratien, unter anderem in Deutschland, als oberflächlich getarnte Lügen entblößt wurden und die dem ideellen Grundgerüst, dem Skelett der EU herbe, tiefe Schläge versetzt hat.

Die Weichen, keine autonomen Entscheidungen von solcher Größenordnung zu treffen, wurden für Berlin sowieso früh gestellt: jeder neue, ins Amt gewählte Bundeskanzler muss die sogenannte Kanzlerakte unterzeichnen, die im Mainstream selbstverständlich regelmäßig als "Verschwörungstheorie" entschärft wird – ein Geheimdokument, was von Konrad Adenauer bis hin zu Willy Brandt stets unterschrieben werden musste und eine Unterwerfung gegenüber Washington darstellte. Wenn Washington also nicht möchte, dass Berlin die EU verlässt, wird Berlin auch nicht die EU verlassen. Zumindest nicht unter der Regie eines Bundeskanzlers.

Siamesische Zwillinge

Ob Berlin und Brüssel oder Berlin und Paris: Deutschland ist innerhalb der EU mindestens in einer, aber eher in beiden Konstellationen unwiderruflich und intim verwachsen. Es ist nicht ein dickes, herausmontierbares Kabel, das die Elemente verbindet. Es sind unzählige Fasern, die ineinander verwoben und verknotet sind und das Ökosystem zwischen Paris, Brüssel und Berlin als zutiefst symbiotisch entlarven. Immerhin, wie bereits erwähnt, alle drei europäischen Hauptstädte sind seit der Gründung der heutigen EU darin fest verankert.

Frankreich ist zwar auch ein historischer Konkurrent zu Deutschland, aber selbst Zbigniew Brzeziński hatte in seinen geopolitischen Schriften die starke Partnerschaft der beiden Länder verstanden. Er erklärte, dass beide EU-Schlüsselnationen regelmäßig gegeneinander auszurichten seien, damit sich die EU als Gebilde nie wirklich gegenüber Washington verselbstständigt oder gar querstellt. Das hätte dann unnötigerweise zu einer autonomen und souveränen geopolitischen Linie Europas geführt, zu der es letztendlich nicht kam: bis heute ein klarer strategischer Erfolg der USA.

Ein "alter" Zwilling könnte auch erneute Berücksichtigung und Wichtigkeit erlangen: die neuen Bundesländer, also die ehemalige DDR. Denn weltanschauliche Unterschiede zwischen West und Ost sind in den Köpfen immer noch eklatant, was auch die Landtagswahlen der letzten Jahre immer stärker illustriert haben. Mögliche Sezessionen, die die heutige territoriale Integrität der Bundesrepublik in einer strittigen Angelegenheit wie einem eventuellen EU-Austritt infrage stellen könnten, würden bei hinreichend großem gesellschaftlichem Chaos folgen.

Der Euro-Entzug

Dann gibt es da noch die Währungsunion. Die Bundesrepublik liefert bisher – mit jährlich 3,5 Billionen Euro, also 22 Prozent – fast ein Viertel des gesamten Bruttoinlandsproduktes der EU – sie hat die größte Volkswirtschaft der EU, mitten im Herzen Europas. Außerdem ist Berlin regelmäßig der mit Abstand größte Nettozahler in den EU-Haushalt. Im Jahr 2017 zahlte Deutschland 13 Milliarden Euro mehr ein als es umgekehrt erhielt. Die wichtigsten wirtschaftlichen Prozesse innerhalb der EU werden in Euro abgerechnet.

Um die deutsche Mark (DM) bei einem EU-Austritt wiederzubeleben, bräuchte es ein Wort mit der Deutschen Bundesbank, die alle alten Währungseinheiten noch irgendwo in Verwahrung haben soll. Bis heute sei der Wechsel von DM zu Euro dort möglich. Ende 2021 sollen wohl noch immer etwa 5 Prozent der DM-Umlaufmenge aus dem Jahr 2000 nicht bei der Bundesbank in Euro umgetauscht worden sein.

Staatliche EU-konforme Finanzexperten und Wirtschaftswissenschaftler warnen seit der Eurokrise 2010 regelmäßig davor, auf die Rückkehr der deutschen Mark zu hoffen, und pochen auf die Notwendigkeit des Euro. Vielleicht werden sie schon bald ihre Meinung ändern.

Herztransplantation

Ein hypothetischer Austritt Deutschlands aus der Europäischen Union ist wie die erste Etappe einer Herztransplantation. Die Bundesrepublik stellt in diesem Bildnis das Herz dar. Das chirurgische Entfernen des Herzens ist geglückt, die ganze medizinische Mannschaft freut sich und beginnt zu feiern. Champagner-Korken schießen durch die Luft, als ob die Operation bereits geglückt wäre. Plötzlich fragt aber der Praktikant, wo denn das neue Herz aus der Organspende aufbewahrt wird. Keiner weiß es, Panik bricht aus. Alle schieben sich die Verantwortung und Haftung gegenseitig in die Schuhe, während die Uhr unerbittlich tickt – nur um am Ende festzustellen, dass gar kein neues Herz bereitgestellt wurde. Pech für den Patienten – hier dargestellt vom supranationalen, zentralisierten Staatenbund. Der Patient ist tot – und die Klinik geht wohl bald in Flammen auf.

Der Weimarer Eingriff

Eine EU ohne Deutschland zerfällt wie ein mit Tränen und Schweiß notdürftig zusammengeheftetes Kartenhaus. Eine solche EU mit dem jetzigen geopolitischen Kurs zerfällt, auch mit Deutschland an Bord. Wie man es auch dreht, Berlin steht vor einer lebenswichtigen Gabelung. Noch ist die öffentliche Meinung in Deutschland monolithisch eingeschworen – nicht nur auf die unverzichtbare und lebensnotwendige EU-Mitgliedschaft, sondern dabei naturgemäß auch auf die weiter fortdauernde Führungsrolle Berlins in der EU. Für viele deutsche Bürger gilt die seltsame Ungleichung: Die EU ist Europa und Europa ist die EU. Die Schweiz und Norwegen sind bloß verblendet – und der Ural ist sowieso weit weg.

Wird aber aus der Inflation eine Hyperinflation – und damit aus "ich kann mir vier Restaurantbesuche im Monat nicht mehr leisten" zu "ich kann meine Kinder nicht mehr vollwertig mit Nahrung, Obdach und Wärme versorgen" –, so eröffnen sich neue, geradezu revolutionäre Perspektiven.

Die deutsche Bevölkerung wird spätestens dann Fragen stellen – und auch nicht lange auf deren Beantwortung warten wollen – wer für all das plötzliche Elend verantwortlich ist. Den "bösen Russen" im fernen Kreml erneut als Trumpfkarte zu ziehen, wird sich als eine äußerst schwache und ausgeleierte Strategie entpuppen. Schnell wird das Rampenlicht auf die hiesige politische Herrscherklasse fallen, die zentralisiert, fremdbestimmt und – in der Retrospektive trotzdem – vorsätzlich und willentlich diese Prozesse nicht nur geduldet, sondern mit angefeuert hat.

Bis dahin marginalisierte politische Bewegungen könnten an Schwung gewinnen.  Isolationistische, rechtskonservative und EU-skeptische Lager in der AfD zum Beispiel könnten plötzlich großen Rückenwind erfahren. Demonstrationen und Kämpfe zwischen den Lagern auf offener Straße würden einen Bürgerkrieg entzünden, der über die geschichtliche Schablone der Weimarer Republik hinausgehen könnte. Viele traditionell liberale, progressive und internationalistische Gemeinden in Deutschland könnten einen desillusionierenden Kippmoment erfahren. Die Rede über EU-Austritt oder sogar NATO-Austritt würde mehr und mehr auch im Medien-Mainstream zugelassen werden. Das wären alles Hinweise darauf, dass auch ein Elitenwechsel in Deutschland vom Zaun gebrochen wurde. Strukturen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht reformiert wurden – teils sogar seit der Nazi-Zeit nicht reformiert wurden, wie die Bewegung der 68er in Deutschland teilweise offenbarte. Für solch einen tiefgreifenden Wechsel der Eliten gibt es gegenwärtig aber kein signifikantes, vernehmbares Volksbegehren oder Bewusstsein, zumindest noch nicht.

Ein deutsches Wahlmotto einer solchen Zukunftsvision könnte wie folgt lauten: "Das EU-Kreuzfahrtschiff sinkt so oder so, aber Berlin könnte sich auf einen entfernten Fischkutter retten." 

Auch das wäre aber eher ein leeres Versprechen, denn selbst wenn Berlin "auf dem Papier" aus der EU ausgetreten wäre – samt aller Ratifizierungen – würden die ätzenden und einschneidenden wirtschaftlichen, ja existenziellen Erschütterungen der Rest-EU um die Bundesrepublik herum sie selbst genauso treffen – ob noch als EU-Mitglied oder bereits als ein Staat nach einem EU-Exit.

Deutschland ist keine solche Insel, wie Großbritannien seit jeher eine war. Wobei selbst bei den Briten sich dieser präzedenzlose Prozess namens Brexit bekanntlich über Jahre hinzog. Sich zurückzuziehen und notfalls hermetisch abzuriegeln, ist unmöglich für ein Deutschland, das zurzeit "das Herzrasen der EU" symbolisiert. Deutschland ist mittendrin, statt nur dabei. Ein Austritt Deutschlands aus der EU würde de facto einen annähernd simultanen Zerfall der EU selbst bedeuten. Der "Austritt" aller anderen EU-Mitgliedsstaaten wäre damit natürlich eingeschlossen. In jedem Falle ist der Brüsseler Infarkt sicher.

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