Nach seinem Ausscheiden vom langjährigen Amt des Ministerpräsidenten im Jahr 2020 ist Dmitri Medwedew zum stellvertretenden Leiter des Sicherheitsrates der Russischen Föderation befördert worden. Böse Zungen behaupten, dass dieser Posten für einen Ex-Präsidenten einfach eine Sinekure sei. Spätestens seit dieser Versetzung sei Medwedew keine politische Figur mehr.
Aber ausgerechnet im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise baute Medwedew beachtliche mediale Präsenz auf, sodass er in der russischen Politkommunikation nicht mehr wegzudenken ist. Als Ort der freien Meinungsäußerung nutzt Medwedew zunehmend seinen Telegram-Blog.
So hat er am Samstag die Prognose der ukrainischen Seite bezüglich Perspektiven der russisch-ukrainischen Verhandlungen mit dem Hinweis kommentiert, dass es zu bezweifeln sei, dass zum nächsten, von den Ukrainern gewünschten Termin im August, überhaupt der Gegenstand der Verhandlungen (die Ukraine) noch existieren werde.
Mit einem längeren Text am Sonntag legte Medwedew mit dem Polit-Trolling nach. Sein Kommentar galt nun dem EU-Beitrittsversprechen gegenüber der Ukraine. Seinen Beitrag begann er mit der Erinnerung an seine Sowjet-Kindheit zu der Zeit, als die Kommunistische Partei die Zukunftspläne zum Aufbau des Kommunismus entworfen hatte. In der im Jahr 1961 verabschiedeten Fassung des Programms hieß es:
"Die Partei verkündet feierlich: Die heutige Generation des Sowjetvolkes wird im Kommunismus leben!"
Wie alle Schulkinder der 70er Jahre habe auch Medwedew darauf gewartet, dass der Kommunismus kommen werde. "Leider kam er nicht. Die Sowjetunion brach zusammen, die KPdSU wurde aufgelöst", stellte Medwedew fest. Dann zog er den Vergleich zwischen den Plänen der KPdSU mit dem Beitrittsversprechen der EU gegenüber der Ukraine:
"Die Situation im Zusammenhang mit dem Aufkommen des globalen Glücks in der Sowjetunion erinnert mich an den Spruch der Europäischen Kommission bezüglich der Kandidatur der Ukraine – sie haben es versprochen."
Das ist das einzige Mal im Text, dass Medwedew den Staat Ukraine mit seinem heutigen politischen Namen nennt. Im Folgenden schwenkt er auf den historischen Begriff Malorossija (Kleinrussland) um. So hießen die Gebiete der heutigen Zentral-Ukraine zur Zarenzeit, während Rest-Russland in seinem europäischen Teil Großrussland hieß. Damals war es gegenüber der Ukraine natürlich nicht geringschätzig gemeint, doch bei den heutigen Zuständen sind solche Anspielungen für die ukrainischen Nationalisten schlicht und einfach ein Affront.
"Und sie haben nur Malorossija zugesagt, nicht einmal Georgien (ich wäre beleidigt gewesen, von der Türkei ganz zu schweigen)", so Medwedew.
Um der EU beitreten zu können, sollen die Ukrainer besser, sauberer, weniger korrupt, mehr entwickelt, aufgeklärt, intelligent werden. Aber auch das sei laut Medwedew zu wenig, um Mitglied der europäischen Familie zu werden. Pathetisches Lob der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen interpretierte er als unterschwellige Aufforderung zur Opferhaltung:
"Und Tante Ursula sagte sogar, dass die Ukrainer für die EU-Mitgliedschaft sterben würden".
Das hat von der Leyen tatsächlich gesagt. Wie die Tagesschau am Freitag vermeldete:
"Die Ukrainer sind bereit, für diese europäische Perspektive zu sterben", sagte von der Leyen mit Blick auf den russischen Angriffskrieg gegen das Land. Man wolle es ihnen ermöglichen, den europäischen Traum zu leben."
Aber zurück zu Medwedew. Beim Versprechen der EU-Perspektive sei es wie beim Aufbau des Kommunismus. Es sei kein Datum angegeben, dafür aber viele nicht überprüfbare abstrakte Bedingungen. Eine objektive Überprüfung sei unmöglich, diese werde sich deshalb jahrzehntelang ziehen und von den neuen Generationen der EU-Führungskräfte zum Abschluss gebracht werden müssen. Den voraussichtlichen Beitrittstermin lege er daher auf die Mitte des Jahrhunderts, natürlich unter der Voraussetzung, dass die EU in ihrer heutigen Form zu diesem Zeitpunkt noch existiere:
"Aber die Situation kann wie beim Schicksal der UdSSR eintreten. Der Kommunismus wäre vielleicht gekommen, wenn die Union selbst überlebt hätte. Und die Union ist leider gestorben. Verstehen Sie, worauf ich hinaus will?"
Das Posting des Ex-Präsidenten endet in unverhohlenem Sarkasmus:
"P.S.: Was ist, wenn (klopf dreimal auf Holz) die EU bis dahin ebenfalls verschwindet? Ich kann mir nicht vorstellen, was für ein Skandal, welche Opfer auf dem Altar des EU-Beitritts gebracht wurden, und was für eine Täuschung der Erwartungen der unglücklichen Ukrainer?
Ach, ich will es nicht verhexen …"
Während Ex-Präsident Medwedew über die ukrainische EU-Beitrittsperspektive Witze macht, sagte der amtierende Präsident Putin diese Woche, dass Russland zu einem möglichen EU-Beitritt der Ukraine nichts einzuwenden habe, weil die EU kein militärischer Block sei. Noch im April hieß es in den Erklärungen der russischen Regierungsbeamten, dass der EU-Beitritt der Ukraine genauso wie NATO-Beitritt das Überschreiten der roten Linie gewesen wäre, weil die EU sich militarisiere.
Warum hat sich die Rhetorik der russischen Führung derart verändert? Darauf liefern auch die jüngsten Späße Lawrows ("Mitgliedschaft in der Mitgliedschaft") genauso wie die Medwedew-Kommentare eine Antwort: Die EU-Perspektive der Ukraine sieht der Kreml nun weniger als Gegenstand für eine politische Analyse, sondern als zunehmend beliebteres Ziel für ironische Bemerkungen.
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