Polen und Ungarn unterliegen am Europäischen Gerichtshof

Polen und Ungarn sind mit ihrer Klage gegen den sogenannten "Rechtsstaatsmechanismus", eine Verordnung aus dem Jahr 2020, die eine Kürzung oder Streichung finanzieller Zuwendungen an "renitente" Staaten ermöglicht, gescheitert. Der Europäische Gerichtshof hat die Verordnung am Mittwoch für rechtens erklärt.

Polen und Ungarn sind zwei Länder, die seit einiger Zeit in vielen Politikbereichen eine eigene Linie fahren, die in den Brüsseler EU-Amtsstuben auf wenig Gefallen stößt. Im Falle von Polen sind es die abwehrende Haltung bei der Aufnahme von Flüchtlingen und die umstrittene Justizreform; im Falle von Ungarn Fragen der Medien- und Pressefreiheit, in denen sich die konservativen Regierungen dieser beiden Länder mit der europäischen Kommission und der in anderen Teilen Europas vorherrschenden Politikvorstellung überwarfen. 

Um die Abweichler maßregeln und "auf Linie" halten zu können, ließen sich das Europäische Parlament und der Europäische Rat (letzterer ist eine Versammlung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten, die die eigentlich wichtigen Entscheidungen treffen) einen besonderen Mechanismus einfallen. Das Prinzip ist einfach: Wer nicht so spurt, wie die EU will, kriegt weniger oder keine Zahlungen aus dem EU-Haushalt. 

Die Verordnung, die diesen Sanktionsmechanismus regelt, wurde am 16. Dezember 2020 durch Parlament und Rat der EU erlassen. Sie trägt den etwas sperrigen Namen "Verordnung über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union". Der Grundgedanke: Einen sachgerechten Umgang mit den Haushaltsmitteln der Europäischen Union kann nur derjenige Mitgliedsstaat gewährleisten, dessen Justizsystem wirksam vor Missbrauch der Mittel, Korruption und Vetternwirtschaft schützt und einen diskriminierungsfreien Zugang zum Recht für alle EU-Bürger effektiv ermöglicht. 

Um das zu gewährleisten, ermächtigt die besagte Verordnung den Rat der EU auf Vorschlag der Kommission (der "Regierung" der EU) Maßnahmen bis zur Einstellung von Zahlungen an die Mitgliedsstaaten zu ergreifen, die nach ihrer Ansicht gegen das Rechtsstaatsprinzip verstoßen. Die möglichen Maßnahmen sind in Artikel 5 der Verordnung aufgeführt. Sie ermöglichen nicht nur die Aussetzung oder Einstellung unmittelbarer Zuwendungen aus dem Haushalt der EU an den betreffenden Mitgliedsstaat, sondern auch ein Verbot der Kreditaufnahme. Und das kann im schlimmsten Fall den Mitgliedsstaat in den Staatsbankrott treiben.  

Das Problem an dieser Verordnung ist, dass die Voraussetzungen, unter denen die Sanktionen gegen den Mitgliedsstaat ergriffen werden können, in den Artikeln 3 und 4 der Verordnung sehr allgemein gefasst sind. Als Verstöße gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit gelten demnach:

a) die Gefährdung der Unabhängigkeit der Justiz;

b) das Versäumnis, willkürliche oder rechtswidrige Entscheidungen von Behörden einschließlich Strafverfolgungsbehörden, zu verhüten, zu korrigieren oder zu ahnden, die ihre ordnungsgemäße Arbeit beeinträchtigende Einbehaltung finanzieller und personeller Ressourcen, oder das Versäumnis, sicherzustellen, dass keine Interessenkonflikte bestehen;

c) die Einschränkung der Zugänglichkeit und Wirksamkeit von Rechtsbehelfen, auch mittels restriktiver Verfahrensvorschriften, und der Nichtumsetzung von Gerichtsentscheidungen, oder der Einschränkung der wirksamen Untersuchung, Verfolgung oder Ahndung von Rechtsverstößen. 

Wann etwas aus dieser Liste vorliegt, ist letztlich Auslegungssache und anfällig für Subjektivität und Willkür. Kann es beispielsweise als Gefährdung der Unabhängigkeit der Justiz gelten, dass in Deutschland Bundes- und Verfassungsrichter durch die Politik bestimmt und ernannt werden? Oder wenn Verfassungsrichter bei der Bundeskanzlerin zum nicht öffentlichen Gespräch eingeladen sind? Schränkt die deutsche Strafprozessordnung die Zugänglichkeit und Wirksamkeit von Rechtsbehelfen nicht zu sehr ein, wenn es angesichts ausufernder formeller Anforderungen an die schriftliche Revisionsbegründung inzwischen selbst Fachanwälten für Strafrecht größte Schwierigkeiten bereitet, eine Revision so zu begründen, dass der Bundesgerichtshof sie nicht schon wegen formeller Fehler abweist?

Man sieht, dass der Wortlaut der Verordnung potenzielle Möglichkeiten unzähliger Konflikte eröffnet und die Souveränität der Mitgliedsstaaten nun auch bei der Gestaltung der Justiz einschränken kann. 

Ungarn und Polen haben vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg (nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg) jeweils Klage auf Nichtigerklärung dieser Verordnung erhoben. Beide Staaten sahen den Erlass der "Verordnung über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union" als Kompetenzüberschreitung durch die EU. In dem Vertrag über die Gründung der Europäischen Union würde es keine geeignete Rechtsgrundlage geben, auch sei der Grundsatz der Rechtssicherheit verletzt, argumentierten die Kläger.  

Der EuGH hat die Klage am Mittwoch abgewiesen und damit die Verordnung und den sogenannten "EU-Rechtsstaatsmechanismus" für mit Europäischem Recht vereinbar befunden. Die Rechtsgrundlage der Verordnung sieht der EuGH, soweit man das aus der noch unvollständigen Begründung in der Pressemitteilung ableiten kann, in dem allgemeinen Haushaltsrecht der Union. Der Mechanismus würde dem Schutz des Unionshaushaltes dienen:

"Das Ziel der Verordnung besteht darin, den Unionshaushalt vor Beeinträchtigungen zu schützen, die sich hinreichend unmittelbar aus Verstößen gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit ergeben, und nicht etwa darin, derartige Verstöße als solche zu ahnden."

So wie die EU in ihren "Haushaltsvorschriften" Bedingungen regeln darf, unter denen die Mitgliedsstaaten finanzielle Zuwendungen aus dem Budget der Union erhalten, dürfe sie auch Sanktionen vorsehen für den Fall, dass gegen diese Bedingungen nachhaltig verstoßen werde, argumentieren die Richter des EuGH.  

Weiter führt der EuGH aus, dass die mit der Klage angegriffene Verordnung keine Umgehung des in Art. 7 EUV vorgesehenen Verfahrens darstellt und mit den Grenzen der Zuständigkeiten der Union im Einklang steht.

Einen Verstoß gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit hat der EuGH auch nicht gesehen: Die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit seien in seiner eigenen Rechtsprechung bereits umfänglich konkretisiert und hätten ihren Ursprung in gemeinsamen Werten aller Mitgliedsstaaten. Die Mitgliedsstaaten seien daher auch ohne Konkretisierung in der Verordnung in der Lage, "den Wesensgehalt jedes dieser Grundsätze sowie die aus ihnen folgenden Erfordernisse hinreichend genau zu bestimmen."

Die Bundesregierung hat das Urteil des Europäischen Gerichtshofs begrüßt. Diese Entscheidung der Luxemburger Richter mache deutlich, dass Europa "eine Wertegemeinschaft und eine Rechtsstaatsgemeinschaft" ist, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Mittwoch in Berlin. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) schrieb auf Twitter, Rechtsstaatlichkeit sei das Fundament der EU.

Ob die heutige Entscheidung den schwelenden Konflikt der EU mit einigen der osteuropäischen Mitgliedsstaaten, die ihre staatliche Souveränität in Gefahr sehen, befrieden kann, ist mehr als fraglich. Ungarn hat auf den Richterspruch bereits mit scharfer Kritik reagiert. Das Gericht habe einen "politisch motivierten Spruch" gefällt, weil Ungarn jüngst ein Gesetz zum Kindesschutz in Kraft gesetzt habe, schrieb Justizministerin Judit Varga am Mittwoch auf ihrem Twitter-Konto. Die Entscheidung sei ein lebender Beweis dafür, wie Brüssel seine Macht missbraucht.

Polen hat im Jahr 2020 13,21 Milliarden Euro mehr aus dem EU-Haushalt erhalten, als es eingezahlt hat. Bei Ungarn beträgt das Saldo 4,85 Milliarden Euro. 

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(rt/dpa)