Selenskij nach Gipfel mit Scholz: Die NATO ist für die Ukraine ein weit entfernter Traum

Bundeskanzler Olaf Scholz traf sich mit dem ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij. In der Pressekonferenz erklärte Selenskij, dass der Weg in die NATO "länger als erhofft" wird. Er deutete an, dass dies Grundlage eines Kompromisses mit Russland werden könnte.

Am 14. Februar befand sich Bundeskanzler Olaf Scholz zu einer Arbeitsvisite in Kiew. Dort traf er sich mit dem ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij zu einer längeren Unterredung. Das Gespräch begann kurz nach 13 Uhr Kiewer Ortszeit (12 Uhr MEZ) und dauerte zwei Stunden. 

Bei der anschließenden gemeinsamen Pressekonferenz erneuerte Selenskij ukrainische Forderungen nach präventiven Sanktionen gegen Russland, Waffenlieferungen an sein Land sowie deutschen Investitionen in die ukrainische Wirtschaft:

"Die deutschen Investitionen in der Ukraine sind ein wichtiges Element unserer Standhaftigkeit und Unabhängigkeit", betonte Selenskij.

Er kündigte die baldige Durchführung des 5. Deutsch-Ukrainischen Wirtschaftsforums an.

Selenskij unterstrich die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und dem deutschen Bundeskanzler bezüglich der Erdgasleitung Nord Stream 2. Die Ukraine stehe dem Projekt nach wie vor ablehnend gegenüber und betrachte die Erdgasleitung als geopolitische Waffe Russlands. Man begrüße indes die Bereitschaft Deutschlands, die Entwicklung erneuerbarer Energien in der Ukraine zu unterstützen.

Auffallend entspannt waren die Blicke, die Scholz und Selenskij einander in dem Moment zuwarfen, als der ukrainische Präsident in seiner vorbereiteten Erklärung auf "einige Meinungsverschiedenheiten" bezüglich Nord Stream 2 zu sprechen kam.

Auf die Frage einer ukrainischen Journalistin deutete Selenskij an, dass der ukrainische Weg in die NATO länger und darin die Basis für einen Kompromiss mit Russland gesehen werden könnte. Wörtlich sagte der ukrainische Präsident, die Mitgliedschaft seines Landes in der NATO sei "ein weit entfernter Traum":

"Die Frage der offenen Türen der NATO ist für uns so eine Geschichte, ein Traum, ein Signal, wohin wir gehen. Doch keiner weiß, wann wir dort ankommen werden. (...) Wir müssen unseren Weg gehen, und heute ist die Stärke unserer eigenen Armee wichtig. Wohin aber dieser Weg uns führt und wann wir dort ankommen, das werden wir sehen."

Das Signal, dass die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine in weiter Zukunft liege, gehe nicht von der Ukraine aus, sondern von anderen Staaten, stellte Selenskij auf Nachfrage klar. Eine konkrete Hoffnung besteht für den ukrainischen Präsidenten dagegen hinsichtlich der Mitgliedschaft in der Europäischen Union:

"Wir rechnen fest mit der Unterstützung unserer Partner in der Frage der vollwertigen Mitgliedschaft der Ukraine in der EU."

Scholz erklärte dazu:

"Wir stehen vor einer praktischen Herausforderung, die Lage zu deeskalieren, dafür zu sorgen, dass sich die (russischen) Truppen wieder zurückziehen aus Weißrussland und die Übung dort beendet wird, ohne dass es zu einem Krieg gegen die Ukraine kommt. Dasselbe gilt für die Grenze der Ukraine mit Russland. Das ist die herausragende Aufgabe, die wir jetzt haben. Die Frage von Mitgliedschaften in Bündnissen steht ja praktisch gar nicht an. Und deshalb ist es schon etwas eigenwillig zu beobachten, dass die russische Regierung etwas, das nicht auf der Tagesordnung steht, zum Gegenstand einer großen politischen Problematik macht." 

In seinem Eingangsstatement unterstrich Scholz die Unterstützung Deutschlands für die Ukraine, ihre Souveränität und territoriale Unverletzlichkeit. Er verkündete eine Botschaft, die ihm ganz wichtig war:

"Deutschland steht ganz eng an Ihrer Seite. Mein Land ist beeindruckt von der Demokratiebewegung in der Ukraine, unterstützt Sie auf dem europäischen Pfad, den die Ukraine seit 2014 nun verfolgt."

Eines fehlt bei keinem Staatsbesuch in Kiew der letzten Jahre, und so kündigte auch der Bundeskanzler an, das Denkmal für die "Himmlische Hundertschaft" im Anschluss an die Pressekonferenz zu besuchen und "die mutigen Männer und Frauen des Maidan, die für diesen Weg gekämpft und ihr Leben gelassen haben" zu würdigen.

Scholz erinnerte daran, dass Deutschland der Ukraine in den vergangenen acht Jahren finanzielle Hilfe im Umfang von mehr als zwei Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt habe. Er kündigte für die kommenden Tage die Auszahlung von 300 Millionen Dollar direkter Finanzhilfen an Kiew an, darunter 150 Millionen, die schon zuvor zugesagt worden waren, sowie weiterer 150 Millionen, die neu hinzukommen. Außerdem erinnerte Scholz die Anwesenden daran, dass Deutschland ein Viertel der 1,2 Milliarden Dollar bereitstelle, die der Ukraine von der Europäischen Union zur Verfügung gestellt werden.

"Deutschland ist der größte finanzielle Unterstützer der Ukraine, und wir werden es auch bleiben."

Einig war man sich, die diplomatischen Bemühungen im Normandie-Format fortsetzen zu wollen. Nach den Worten des deutschen Bundeskanzlers könnte Bewegung in die festgefahrene Position der Ukraine bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen gekommen sein: 

"Der Präsident hat mir in unseren Gesprächen versichert, die Gesetzentwürfe zum Sonderstatus, zur Verfassungsänderung und zum Wahlrecht zur Verfügung zu stellen für die Gespräche im Minsker Format."

Für den Fall einer erneuten "Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine" kündigte Scholz schwerwiegende wirtschaftliche, diplomatische und geopolitische Konsequenzen für Russland an. Zu einem ernsthaften Dialog mit Russland über Fragen der europäischen Sicherheit sei man indes bereit. 

Auf die Frage einer Journalistin der taz nach Waffenlieferungen wiederholte der Bundeskanzler seine bisherige ablehnende Position:

"Sie kennen die Gesetzeslage in Deutschland."

Vor der Reise des deutschen Bundeskanzlers nach Kiew hatte die Bundesregierung der Ukraine weitere Rüstungshilfe in Aussicht gestellt, will aber unterhalb der Schwelle tödlicher Waffen bleiben. Auf der von der Ukraine vorgelegten Wunschliste für militärische Ausrüstung sei "das eine oder andere …, was man sich genauer anschauen kann", hieß es am Sonntag aus deutschen Regierungskreisen. Das werde nun geprüft. Es gehe dabei neben der politischen Entscheidung auch um die tatsächliche Verfügbarkeit dieses Materials, das von der Bundeswehr auch selbst gebraucht werde. 

Auf einer Wunschliste der ukrainischen Botschaft vom 3. Februar steht eine Reihe Rüstungsgüter, die nicht als tödliche Waffen eingestuft werden, aber für militärische Zwecke – offensiv wie defensiv – verwendet werden können. Dazu gehören elektronische Ortungssysteme, Minenräumgeräte, Schutzanzüge, digitale Funkgeräte, Radarstationen oder Nachtsichtgeräte.

Die Bundeswehr begann am Montag mit einer Verstärkung des NATO-Gefechtsverbandes in Litauen. Die ersten Lastwagen mit Material für zusätzliche Soldaten machten sich am Morgen vom niedersächsischen Munster aus auf den Weg, wie ein Fotograf der Deutschen Presse-Agentur (dpa) berichtete. Dort sollten im Laufe des Tages auch sechs Panzerhaubitzen auf Schwerlasttransportern Richtung Baltikum abfahren. Deutschland führt in Litauen den Einsatz einer NATO-Einheit.

Teile des Materials sollten auf dem Weg einen Zwischenstopp in Jägerbrück (Mecklenburg-Vorpommern) einlegen, von wo aus es am Dienstag weitergehen soll. Außerdem brachte die Luftwaffe von Wunstorf aus erste Soldaten der Verstärkung nach Kaunas in Litauen auf den Weg.

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) hatte vor dem Hintergrund wachsender Spannungen zwischen Russland und der Ukraine eine Verstärkung des Gefechtsverbandes angekündigt. Deutschland entsendet dazu rund 350 zusätzliche Soldaten mit rund 100 Fahrzeugen.

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