Ein Bodenaufklärungsflugzeug des Typs E-8C JSTARS der US-Luftwaffe (E-8C Joint Surveillance Target Attack Radar System, quasi das bodengerichtete Gegenstück zum bekannteren fliegenden Luftgefechtsleitstand AWACS) flog seinen ersten Aufklärungseinsatz über der Ostukraine, berichtete der US-Fernsehsender CNN am Mittwoch mit Verweis auf einen Vertreter des Europa-Kommandos der US-Streitkräfte. Zuvor habe die US-Luftwaffe derartige Flugzeuge zwar in der Schwarzmeerregion eingesetzt – aber eben noch nicht über dem ukrainischen Festland. Ganz gemäß dem vorgesehenen Einsatzzweck der Maschine sollen dabei Informationen über die militärische Lage am Boden gesammelt worden sein.
Dem US-Militärsprecher zufolge soll der Aufkläreinsatz am Montag mit Genehmigung der ukrainischen zuständigen Behörden geflogen worden sein. Die Grenze zwischen dem Territorium unter der Kontrolle Kiews und den Volksrepubliken Donezk und Lugansk soll dabei nicht überquert worden sein, von der Grenze zu Russland ganz zu schweigen – ja, die E8C soll nicht einmal die Region des Donezbeckens überflogen haben, in der die beiden Republiken liegen. Ihre Sensoren, allen voran die Radarantenne mit 120-Grad-Winkel, würden nahezu 51.000 Quadratkilometer abdecken.
Es sei den Operateuren an Bord der Maschine somit potenziell möglich, vom Luftraum über selbigem Gebiet aus auch Truppenbewegungen innerhalb Russlands, an seiner Grenze zur Ukraine, zu verfolgen – was, wie CNN andeutete, auch das Einsatzziel gewesen sein soll: Sowohl in westlichen Ländern als auch in Kiew wurden in letzter Zeit Behauptungen über eine angeblich mögliche russische Invasion in der Ukraine laut.
Einige Sachverhalte lassen allerdings Zweifel daran aufkommen, dass bei dem Flug der E8C nicht etwa für andere Zwecke Aufklärungsdaten gesammelt wurden.
Die letzten Daten und vor allem Bilder über einen angeblichen "Aufmarsch" russischer Bodentruppen, der in seiner Dimension auf ein solches Einfallvorhaben schließen ließe, präsentierte der Westen nämlich vor über einem Monat: Sie betrafen eine Garnison nahe der Stadt Jelnja in der Region Smolensk. Doch obwohl dort, wie es hieß, um die 90.000 oder 100.000 Mann samt Militärgerät disloziert worden seien, liegt die Garnison mit über 300 Kilometern Entfernung von der ukrainischen Grenze und vor allem über 900 Kilometern vom umkämpften Donbass für einen sinnvollen Einsatz gegen die Ukraine doch etwas im Abseits. Und selbst nach fast zwei Monaten sind keine neuen Daten oder Bilder über die Dislozierung weiterer Truppen irgendwo an diesem Bereich der Grenze veröffentlicht worden. Nicht zuletzt sei hier darauf hingewiesen, dass in Kiew selbst diese von der Washington Post mit Verweis auf anonyme US-Amtsträger als Quellen veröffentlichte Information zunächst dementiert wurde.
Behauptungen, denen zufolge Russland zwischen 95.000 und 100.000 Soldaten samt Militärgerät an der ukrainischen Grenze bereithalte, werden vom US-Militär allenfalls als Schätzungen geäußert (siehe etwa CNN-Bericht vom Anfang Dezember 2021).
Auch auf der ganzen Länge der russisch-ukrainischen Grenze gesehen, liegen keine Daten und vor allem keine Bilder oder Satellitenbilder über einen weiteren Aufmarsch vor, der die Lücke zwischen obiger Schätzung und der Zahl von 175.000 Mann an Bodentruppen schließen würde, die die Washington Post mit Verweis auf ein aufklärungsdienstliches Dokument ebenfalls Anfang Dezember als Sollmannstärke für eine russische Invasionsmacht gegen die Ukraine veröffentlichte.
Lediglich von einem jüngsten Abzug von 10.000 Truppen von den Militärübungsgeländen nach abgeschlossenen Manövern ist die Rede, oder allenfalls von einer Rotation dort kann die Rede sein – wobei auf Gelände in Nachbarregionen mit der Ukraine wenige Tausend Mann entfallen.
Andere westliche Quellen schätzen die Mannstärke grenznah dislozierter russischer Bodentruppen derweil deutlich konservativer ein – die britische Daily Express etwa führt als die beiden Extreme 60.000 und 90.000 Mann an.
Zudem läge, am Aufgebot ukrainischer Bodentruppen im Donbass von 125.000 Mann gemessen, die für einen Angriff angemessene Sollmannstärke der angeblichen russischen "Invasionsmacht" bei mindestens 375.000 Mann samt Kriegsgerät: Denn eine der ältesten Militärregeln schreibt dem Angreifer eine dreifache Übermacht im Vergleich zum Verteidiger vor, damit der Angriff überhaupt eine Aussicht auf Erfolg hat. Ein Truppenaufmarsch in einer solchen Mannstärke wäre jedoch sehr leicht per Satellit zu entdecken, was bisher nicht geschehen ist.
Gewonnene Daten nur für Kiew und nur zum Angriff von Nutzen
Damit dürfte klar sein, dass es bei den Überflügen nicht um etwaige Besorgnis vor einem Einfall russischer Truppen in die Ukraine geht, von dem man nicht überrascht werden möchte. Die Aufklärungsflüge der US-Luftwaffe in der Ostukraine müssen anderen Zwecken dienen: Dem Auskundschaften der Kampffahrzeugaufgebote und der Artilleriestellungen sowie möglicherweise der Truppenlager der Volksmilizen der beiden Volksrepubliken Donezk und Lugansk – die Sensoren der E8C erhöhen die Chance, auch dann Fahrzeuge sowie Artillerie- und Truppenstellungen aufzudecken, wenn diese getarnt sind. So gewonnene Standortdaten aber wären ausschließlich für das ukrainische Militär nur in einem einzigen Szenario nützlich: Und dieses Szenario ist ein Überraschungsangriff der ukrainischen Streitkräfte auf die Volksrepubliken Donezk und Lugansk, in einem Versuch, den Bürgerkrieg gewaltsam zu beenden.
Zu euren Menschen kommt der Krieg – schützt ihr sie, gibt es Sanktionen!
Dass Kiew erneut eine baldige militärische Operation gegen die beiden Volksrepubliken vorbereitet, dafür sprechen neben dem mittlerweile enormen Aufgebot ukrainischer Truppen an der Konfliktlinien im Donbass (125.000 Mann bedeutet etwa die Hälfte des ukrainischen Militärs) auch weitere, mittelbare Indizien. Russlands Präsident Wladimir Putin etwa machte auf die gerade am Jahresende 2021 enorm häufige und detailreiche Thematisierung von Sanktionen aufmerksam, mit denen der Westen Russland – bei einem Kriegseinsatz gegen die Ukraine, was immer wieder betont wird – droht. Das russische Online-Blatt Regnum zum Beispiel zitierte am 24. Dezember seinen bei der jährlichen großen Pressekonferenz gelieferten Kommentar dazu:
"Jetzt sagt man uns: Krieg, Krieg, Krieg. Da kommt der Eindruck auf, dass vielleicht eine militärische Operation in Vorbereitung ist und wir im Voraus gewarnt werden: Mischt euch nicht ein, schützt diese Menschen [im Donbass] nicht – und falls ihr euch doch einmischt und sie beschützt, dann werden diese und jene neue Sanktionen folgen."
Für ein weiteres solches Indiz hielt Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharowa die vom ukrainischen Ministerpräsidenten Denis Schmygal angekündigte Militärbudgeterhöhung für das Jahr 2022 um sage und schreibe 20 Prozent. Ein Zitat aus Sacharowas Pressebriefing (ebenfalls am 24. Dezember) führte die russische Nachrichtenagentur TASS an:
"Statt dem bereits das achte Jahr andauernden Bürgerkrieg ein Ende zu setzen, bereitet Kiew sich anscheinend für eine Gewaltlösung des 'Donbass-Problems', wie man es dort nennt. […] In der Werchowna Rada annoncierte Premierminister der Ukraine Denis Schmygal eine Erhöhung des Militärbudgets des Landes im kommenden Jahr bis fast 12 Milliarden US-Dollar."
"Das sind 12 Milliarden US-Dollar für einen Krieg gegen eigene Bürger – jene Menschen, die so oft nur dann Thema von Gesprächen und Gedanken werden, wenn gerade ein Militärbudget zu unterzeichnen ist. Um 20 Prozent wurde das Militärbudget der Ukraine erhöht. Was denn für ein Frieden?"
Auch führte die russische Außenamtssprecherin aktuelle Zahlen der Verstöße gegen das Feuerstopp-Regime im Donbass an, die von der OSZE-Beobachtungssondermission festgestellt wurden:
"In den vergangenen zwei Wochen hat die Beobachtungssondermission der OSZE nahezu 7.000 Verstöße gegen das Feuerstopp-Regime gezählt – und das ist, ich erinnere, fünf Mal so viel wie im Dezember des vergangenen Jahres 2020."
Eine Tendenz wie die von Sacharowa beschriebene kann ebenfalls als Anzeichen einer geplanten militärischen Eskalation gewertet werden.
Ein weiteres Anzeichen ist das für ausländische Militärausbilder und -berater neu eingeführte vereinfachte Eilverfahren zum Erlangen ukrainischer Staatsbürgerschaft. Den völkerrechtstechnischen Sinn hinter diesem Taschenspielertrick erklärte die Sprecherin der russischen Diplomatiebehörde beim selben Pressebriefing – damit soll die in den Minsker Abkommen festgehaltene Vorschrift umgangen werden, ausländische militärische Formierungen, Militärfahrzeuge und -gerät und Söldner aus der Ukraine zu verweisen. Hier zitiert nach der russischen Presseagentur RIA Nowosti:
"Also wenn sie [in Kiew] unmittelbar darauf hingewiesen werden, dass sich auf ihrem Staatsgebiet Militärausbilder anderer Staaten aufhalten, dann werden sie uns darauf anscheinend antworten: 'Wo sind das denn ausländische Militärausbilder, sie haben die ukrainische Staatsbürgerschaft'. Sie sind doch Hütchenspieler..."
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