Der außenpolitische Chef der Europäischen Union warnte am Mittwoch, dass sich die EU auf eine ehrgeizige Doktrin einigen müsse, die die Grundlage für gemeinsame Militäraktionen im Ausland bilden solle, unter anderem mit einer verlegbaren Krisentruppe. Die vor zwei Jahren begonnene Arbeit an der Bedrohungsanalyse, am sogenannten ''Strategischen Kompass'', verweist auf einige grundlegende Änderungen im Ausblick und im Selbstverständnis der EU als "Soft Power" – also einer Macht, die weniger auf Militär setzt, als auf sanfte Macht durch Kultur und politische Werte.
Josep Borrell sagte vor Reportern, sein erster Entwurf des "Strategischen Kompasses", der einer Militärdoktrin am nächsten kommt, sei entscheidend für die Sicherheit, da die Bedrohungslage sich verschärft habe. Laut Borrell sei es das, was europäische Bürger wollen – "von der Union beschützt werden'', und, ''dass die Mitgliedsstaaten ihre Kapazitäten verbessern, um effektiver zu werden, und sie wollen Europa in der Welt sichtbar machen, weil sie wissen, dass unsere Sicherheit weit weg von unseren Grenzen beginnt und von der Sicherheit unserer Partner abhängt''.
Aus der bisher unveröffentlichten Doktrin, die ''eine gemeinsame strategische Vision für die Sicherheit und Verteidigung der EU für die nächsten fünf bis zehn Jahre darlegen'' soll, zitieren mehrere Medien, denen das Dokument vorliegt.
"Europa ist in Gefahr", warnte Borrell im Vorwort des Entwurfs, das am Mittwoch den 27 EU-Staaten zur Diskussion vorgelegt wurde. ''Wir müssen in einer strategischen Umgebung operieren, die zunehmendem Wettbewerb unterliegt.''
''Unsere Bedrohungsanalyse zeigt, dass wir in einer sehr viel feindseligen Welt leben, dass unser Wirtschaftsraum mehr und mehr umstritten ist, unser strategischer Raum mehr und mehr umkämpft wird und unser politischer Raum mehr und mehr degradiert wird'', zitierte euractiv den EU-Außenbeauftragtee mit Blick auf anhaltende Krisen, wie an der polnisch-weißrussischen Grenze, im östlichen Mittelmeer und in der Sahelzone.
''Alles wird zu einer Waffe – die Bedrohungen kommen von überall her und auf unterschiedliche Weisen – zu Lande, zu Wasser, hybrid, Cyber, klassisch – die Welt ist nicht mehr dieselbe wie früher'', sagte er.
Man erlebe die ''Rückkehr der Machtpolitik'', und das nicht nur mit militärischen Mitteln, sondern auch mit Cyberangriffen, der Instrumentalisierung von Migranten, privaten Armeen und der Kontrolle über Rohstoffe wie seltene Erden. ''Die klassische Unterscheidung von Krieg und Frieden ist immer schwieriger geworden.''
''Es reicht nicht aus, nur so zu tun, als sei man eine Soft Power, wenn alles zu einer Waffe gemacht wird. Die EU kann nicht nur über Menschenrechte und Handel sprechen, wenn wir mit einem sehr konfliktreichen und gefährlichen strategischen Umfeld konfrontiert sind'', so Borrell.
Laut Reuters nennen Diplomaten scheiternde Staaten an Europas Grenzen als Gebiete, in die die EU möglicherweise Friedenstruppen entsenden oder Bürger evakuieren muss. Aber auch Russland und China sind prominent in dem Teil des Dokuments, der sich mit Bedrohungen Europas befasst. Russlands ''Aktionen in unserer gemeinsamen Nachbarschaft und auf anderen Schauplätzen widersprechen der Weltsicht der EU und ihren Interessen'', heißt es in dem Entwurf. Gleichzeitig ziele ''die EU-Strategie darauf ab (..), Russland in einigen spezifischen Fragen'', wie dem Klima, ''einzubinden''.
China sei zugleich ''ein Partner, ein wirtschaftlicher Konkurrent und ein systemischer Rivale'', der ''zunehmend in regionale Spannungen verwickelt und involviert ist'', zitiert euractiv aus dem Entwurf.
''Trotz des zunehmenden Selbstbewusstseins Chinas werden wir in Bereichen von beiderseitigem Interesse wie der Bekämpfung der Piraterie, dem Klima und der Sicherheit weiter zusammenarbeiten''. Insgesamt sei bei Fragen nach dem Umgang starke Einigkeit unter den EU-Mitgliedern erforderlich.
"Wir müssen über schnelle Einsatzfähigkeiten verfügen", so eine Schlussfolgerung.
Eine noch umstrittene Idee ist die Schaffung einer 5.000 Mann starke EU-Krisentruppe, der sogenannten ''EU Rapid Deployment Capacity'', bis zum Jahr 2025. Je nach Bedarf sollen darunter neben Bodentruppen auch Luft- und Seestreitkräfte sein. Es gehe darum, unterschiedliche miteinander kombinierbare "Module" zu haben, erklärte der EU-Außenbeauftragte. Es sei nicht die Truppe, die den Einsatz bestimme, sondern der Einsatz bestimme die Truppe.
''Das Wichtigste ist die Fähigkeit zum Einsatz, und zwar nicht auf der Grundlage einer im Voraus festgelegten Truppe, die für ihre Aufgabe vielleicht nicht geeignet ist, sondern mit verschiedenen kombinierbaren Modulen, die jeweils für eine bestimmte Herausforderung eingesetzt werden können'', so Borrell. Sie solle aus ''erheblich modifizierten EU-Gefechtsverbänden und anderen militärischen Kräften und Fähigkeiten der Mitgliedsstaaten'' bestehen.
Diskussionen über den Aufbau einer neuen Eingreiftruppe gibt es in der EU seit längerem und wurden zuletzt durch die militärische Abhängigkeit von den USA bei dem desaströsen Abzug aus Afghanistan noch einmal befeuert. Die scheidende deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer zeigte sich stolz und bezeichnete den strategischen Kompass am Mittwoch als ein "Schlüsselprojekt", das auf eine deutsche Initiative zurückgehe. "Ich bin sehr stolz darauf, dass das Verteidigungsressort diesen Prozess maßgeblich mitgestaltet hat", kommentierte die CDU-Politikerin. Sie sei sich sicher, dass die neue Bundesregierung daran entsprechend anknüpfen werde.
Schon im Jahr 2018 verlangte der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel auf der Münchner Sicherheitskonferenz eine gemeinsame "Machtprojektion" der EU "in die Welt", die auf "das Militärische" nicht verzichten dürfe. Im Jahr 2019 bemühte sich Berlin, der EU einen strategischen Kompass anhand einer geheimdienstlich erstellten "Bedrohungsanalyse" nahezulegen. Das militärpolitische Grundlagenpapier sollte dazu beitragen, die bestehenden EU-Militäransätze – etwa PESCO oder den EU-Battlegroups – zu vereinheitlichen und die militärische Reaktionsfähigkeit des Blocks zu verstärken.
Nach dem Afghanistan-Abzug hatte Berlin gemeinsam mit anderen EU-Staaten einen Vorschlag zum Aufbau einer Eingreiftruppe vorgelegt. Er beabsichtigte, die bereits existierenden EU-Battlegroups zu schlagkräftigen und kurzfristig einsetzbaren Krisenreaktionskräften weiterzuentwickeln. Dazu sollen auch Weltraum- und Cyberfähigkeiten, sowie Spezialeinsatzkräfte und strategische Lufttransportkapazitäten bereitgestellt werden.
''Wir wissen, dass der Einsatz von Gewalt kein Problem löst, aber wir wissen auch, dass das Fehlen von militärischer Macht vom Rest der Welt als Schwäche angesehen wird'', so der EU-Chefdiplomat.
Unterschiedliche Einsatzszenarien könnten beispielsweise das Eingreifen in einen bewaffneten Konflikt, die Evakuierung von Menschen oder das Sichern eines Flughafens sein.
Zwar solle das von den USA geführte NATO-Bündnis weiterhin die Hauptverantwortung für die kollektive Verteidigung Europas tragen, doch betonte Borrell, dass es auch um ''strategische Verantwortung'' gehe und Europa, wo nötig, auch alleine handeln können müsse.
Dazu sei es laut Borrell notwendig, dass die EU mehr Flexibilität einführt, "wenn sie bereit sein will, ein Problem schnell zu lösen''. Nicht jeder Schritt des Prozesses könne erst einstimmig beschlossen werden. Die Befehls- und Kommandogewalt würde bei zuvor festgelegten nationalen operativen Hauptquartieren oder einer Einrichtung innerhalb des EU-Militärstabs (EUMS) liegen. Eine weitere Idee aus Berlin war die Beschleunigung der Entscheidungsfindung durch die Anwendung von Artikel 44 des EU-Vertrags, wonach jeweils nur eine Koalition der Willigen teilnehmen würde. Während die Einsatzentscheidung für eine Mission einstimmig erfolgt, würden nur die tatsächlichen Teilnehmer an der operativen Planung mitwirken.
Laut euractiv äußerten sich einige EU-Diplomaten besorgt darüber, ''weitere neue Instrumente hinzuzufügen, ohne das Potenzial der bestehenden zu nutzen''. Bereits bestehende EU-Battlegroups wurden aufgrund von Streitigkeiten unter anderem um die Finanzierung nicht eingesetzt. Die Außen- und Verteidigungsminister der EU werden sich am Montag mit dem Thema befassen und wollen sich im März auf ein politisches Dokument einigen.
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