Kinderbeihilfe-Skandal in Niederlanden: Über 1.100 Kinder zu Unrecht von ihren Eltern getrennt

Die Affäre um fälschlich zurückgeforderte Kinderbeihilfen ("Toeslagenaffaire") hätte den niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte fast seine politische Karriere gekostet – er überlebte den Skandal. Doch neue Erkenntnisse könnten ihm gefährlich werden.

Laut einem Bericht der niederländischen Nachrichtenagentur Algemeen Nederlands Persbureau (ANP), wurden in den Niederlanden zwischen 2015 und 2020 über 1.100 Kinder zu Unrecht von ihren Eltern getrennt. Die genaue Zahl soll 1.115 betragen. Zu den Trennungen kam es im Rahmen des niederländischen Kinderbetreuungsgeldskandals ("Toeslagenaffaire").

Auslöser der Affäre waren kritische Medienberichten über Sozialbetrug durch Familien mit Migrationshintergrund, vornehmlich aus Bulgarien. Auf Initiative der Koalitionsregierung von Mark Rutte sollten die niederländischen Steuerbehörden stärker gegen Sozialmissbrauch vorgehen. Obwohl die Vorwürfe von Anfang an umstritten waren, wurden bis 2019 rund 20.000 Eltern fälschlicherweise als Sozialbetrüger deklariert und gerieten wegen der an sie gestellten Rückzahlungsforderungen in schwere soziale Not. Die geforderten Rückzahlungen betrugen zum Teil zehntausende Euro. Die erste politische Konsequenz aus dem Skandal musste 2019 der Finanzstaatssekretär Menno Snel tragen, der wegen unrechtmäßigen Vorgehens der Steuerbehörden zurücktrat.

Eine parlamentarische Untersuchungskommission warf der Regierung Ende 2020 die Verletzung der rechtsstaatlichen Basisprinzipien vor. Die Rutte-Regierung sagte daraufhin jedem Opfer 30.000 Euro Schadenersatz zu. Nur wenig später, am 15. Januar 2021 kündigte Rutte den Rücktritt seines gesamten Kabinetts an. Die Regierung blieb jedoch bis zu einer neuen Regierungsbildung nach der Parlamentswahl im März 2021 geschäftsführend im Amt. Bei den Wahlen wurde Ruttens VVD schließlich erneut stärkste Kraft.

"Regierung hat völlig den Überblick verloren"

Bereits im Juni 2020 hatte die niederländische Datenschutzbehörde Autoriteit Persoonsgegevens in einer Untersuchung das Vorgehen der Regierung als "rechtswidrig, diskriminierend und daher unangemessen" bezeichnet. Laut der Behörde wurden "die Staatsangehörigkeit und die doppelte Staatsangehörigkeit der Antragsteller […] dauerhaft und strukturell unnötig negativ berücksichtigt." Nun belegen die Zahlen des niederländischen Statistikamts CBS, dass es nicht nur finanzielle Folgen für die Familien gab, sondern, dass auch 1.115 Kinder zu Unrecht von ihren Eltern getrennt wurden. CBS führte die Untersuchung im Auftrag des Ministeriums für Justiz und Sicherheit durch.

Die Organisation, die den Jugendfürsorgesektor in den Niederlanden überwacht, zeigte sich geschockt über die hohe Zahl der Kinder, die ihr Zuhause verloren. Vorstandsmitglied Arina Kruithof erklärte:

"Der Sozialhilfeskandal mit all seinen Folgen zeigt einmal mehr, dass wir einen anderen Ansatz für den Schutz von Kindern und Familien brauchen. Wenn in einer Familie Probleme auftreten, muss sowohl den Kindern als auch den Eltern frühzeitig geholfen werden. Wenn wir das nicht tun, wird es immer das Kind sein, das leidet."

Die Vorsitzende der niederländischen Sozialdemokraten (SP), Lilian Marijnissen, bezeichnete das Ergebnis der Untersuchung als "eine schreckliche Schande". Ihr Parteikollege Peter Kwint vermutet, dass es noch mehr betroffene Kinder gibt, da sich die Untersuchung nur auf die letzten fünf Jahre konzentriert habe. Er forderte eine größere Untersuchung und Entschädigung.

Laut dem unabhängigen Abgeordneten Pieter Omtzigt zeige die Untersuchung, dass "die Regierung den Überblick über die Folgen ihrer eigenen Politik völlig verloren hat."

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