Bei der Reise des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij nach Berlin ging es um mehr als diplomatische Kontakte. Laut einem Bericht des Handelsblatts war die zukünftige wirtschaftliche Stellung der Ukraine zur EU und insbesondere zu Deutschland Thema. Die Ukraine brauche "ein neues Geschäftsmodell", denn "die goldenen Jahre des Gastransits, aus dem das Land bisher einen wichtigen Teil seiner Einnahmen bestritten hat", seien vorbei. Außerdem setze die EU mit ihrer "Green Deal"-Politik auf lange Sicht auf den Ausstieg aus den fossilen Energien.
Entsprechend konzentrierten sich die Gespräche zwischen Ukraine, EU und Deutschland darauf, welche Rolle die Ukraine bei der angestrebten "Energiewende" einnehmen solle. Der Vize-Präsident der EU-Kommission, Maroš Šefčovič, machte deutlich:
"Die Ukraine hat strategische Bedeutung für die EU."
Von den 30 von der EU im September 2020 identifizierten "kritischen Rohstoffen" lassen sich laut Šefčovič 21 in der Ukraine finden – darunter zum Beispiel Lithium, Kobalt, Titanium und Seltene Erden. Das seien Materialien, die für Schlüsselindustrien wie Luftfahrt, Batterien, Windkraftwerke oder Kommunikationstechnologien essentiell sind. Der slowakische Politiker begründete daher die Notwendigkeit einer Rohstoff- und Batterie-Allianz der EU mit der Ukraine, da "die Abhängigkeit der EU" in diesen Bereichen "sogar größer als bei fossilen Energien" sei.
Die EU-Pläne für die Ukraine gehen darüber hinaus: Die Ukraine soll zu einem Lieferanten für grüne Energien werden. Besonders Deutschland zeigt daran ein starkes Interesse. Offiziell begründet wird das laut dem Handelsblatt mit einer Befreiung der Ukraine von einer russischen Energie-Abhängigkeit. Außerdem könne die Ukraine helfen, die EU "ihrem Ziel der Klimaneutralität ein gutes Stück näherzubringen".
Im Fokus steht dabei die Wasserstoffproduktion. Da die Ukraine ein "beträchtliches Potenzial für Solarenergie" habe – insbesondere im Süden des Landes –, sei sie eine günstige Region für die Erzeugung von Wasserstoff. Der Chef der Deutschen Energie-Agentur (Dena), Andreas Kuhlmann, argumentiert:
"Wir sehen in der Ukraine großes Potenzial für den Aufbau einer grünen Wasserstoffwirtschaft."
Allerdings muss eine solche Wasserstoffwirtschaft mit umfangreichen Investitionen auf den Weg gebracht werden. Von ukrainischer Seite haben sich laut dem Vizeenergieminister Jaroslaw Demtschenkow bereits mehr als 20 ukrainische Gesellschaften zu einer Wasserstoff-Allianz zusammengeschlossen – darunter zum Beispiel der Atomkonzern NAK Energoatom, GTS, der Betreiber des ukrainischen Gastransitnetzes, und der Stromkonzern Dtek.
Auf deutscher Seite wird derzeit sondiert, wie man das Projekt ukrainische Wasserstoffwirtschaft am profitabelsten aufgreifen kann. Eine Dena-Umfrage vom Juni zeigt, dass eine Vielzahl deutscher Unternehmer Pläne für Investitionen in die Wasserstoffproduktion in der Ukraine verfolgen. Die Dena selbst wurde vom Bundeswirtschaftsministerium beauftragt, die Zusammenarbeit mit der Ukraine in Sachen Energiewirtschaft zu vertiefen. Der Dena-Chef sieht seine Aufgabe darin, "die globale Energiewende in einem der größten Nachbarländer der EU ebenso wie den internationalen Klimaschutz" zu fördern.
Der Chef der deutsch-ukrainischen Handelskammer in Kiew, Alexander Markus, betonte die Bedeutung der Etablierung der Ukraine als grünen Energielieferanten für die EU:
"Wenn es gelingt, wird das der Gamechanger in den Beziehungen der EU und Deutschlands zur Ukraine."
Neben der Wasserstoffenergie sieht das Handelsblatt noch weitere Potentiale der Ukraine für die deutsche bzw. die EU-Energiewirtschaft. So verfüge die Ukraine "über riesige Flächen für den Ausbau der Windenergie und großes Potenzial für Photovoltaikanlagen". Vor allem wird ein Vorzug hervorgehoben: Das Vorhandensein einer Infrastruktur, um den Wasserstoff nach Deutschland zu transportieren – die Pipelines zum Transport des russischen Erdgases. Deren Umbau sei deutlich günstiger als der Neubau von Wasserstoffpipelines. Sollen diese aber genutzt werden, muss der Gastransport gestoppt werden. Hat am Ende die deutsche Wirtschaft ein verstärktes Interesse, die russischen Gastransporte nicht mehr durch die Ukraine laufen zu lassen?
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