War die erzwungene Landung in Minsk eine "Entführung"? Was sagen Luftfahrt-Experten?

Die Zwischenlandung einer Ryanair-Maschine in Minsk förderte recht wütende Reaktionen zutage. Die westlichen Staaten werfen Weißrussland Willkür vor und beschließen Sanktionen einschließlich Landeverbote. Aber haben die Behörden in Minsk tatsächlich die Luftfahrtregeln gebrochen?

Die Behörden der Republik Belarus hatten am Sonntag ein Ryanair-Flugzeug auf dem Weg von Athen nach Vilnius nach einer Bombenwarnung zur Landung in Minsk gezwungen. Nach der Sicherheitskontrolle am Flughafen Minsk konnten die mehr als hundert Fluggäste ihren Flug mit mehrstündiger Verspätung fortsetzen – allerdings ohne den international gesuchten Politaktivisten Roman Protassewitsch und seine Freundin, die beide festgenommen wurden.

Unmittelbar danach folgten die Drohungen aus dem Westen gegen die weißrussische Regierung. Und die klingen recht brachial: "Das unverschämte und illegale Verhalten des Regimes in Belarus wird Konsequenzen haben", schrieb die Kommissions-Präsidentin der Europäischen Union (EU) Ursula von der Leyen am Sonntagabend bei Twitter, und sie nannte die Landung eine "Entführung":

"Die Verantwortlichen für die Ryanair-Entführung müssen sanktioniert werden."

Auf dem Gipfel der Staats- und Regierungschefs am Montag hat die Europäische Union schließlich neue Sanktionen gegen Weißrussland beschlossen. Es sollen auch ferner weißrussische Fluggesellschaften künftig den Luftraum der EU nicht mehr nutzen dürfen und von Starts und Landungen an Flughäfen in der EU ausgeschlossen sein. Fluggesellschaften mit Sitz in der EU sind darüber hinaus aufgefordert, den Luftraum über Weißrussland zu meiden. 

Aber hat Weißrussland mit der Umleitung des genannten Fluges nach Minsk einen Rechtsbruch begangen? Die vom russischen Wirtschaftsportal RBK befragten Experten meinen, dass Weißrussland nicht gegen internationale Regeln verstoßen habe, dessen Flugaufsicht eine dringende Empfehlung zur Landung angeordnet hatte. Die Situation einer Beteiligung von MiG-29-Abfangjägern sei dagegen etwas ungewöhnlich.

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"Geht man von den derzeit bekannten offiziellen Daten aus, die von Minsk zur Verfügung gestellt wurden, so erfolgte die außerplanmäßige Landung der Ryanair-Passagiermaschine Athen-Vilnius auf dem Flughafen der weißrussischen Hauptstadt in voller Übereinstimmung mit den Regeln für internationale Flüge." Dies erklärte der Direktor des Instituts für Luft- und Weltraumrecht AEROHELP, ein Experte auf dem Gebiet des Luftfahrtrechts, Oleg Aksamentow:

"Geschichten mit angeblich verminten Flugzeugen können erfunden werden, aber im Fall der Ryanair-Maschine wissen wir das nicht", bemerkte Aksamentow.

"Eine Meldung – selbst wenn sie sich später als falsch herausstellt – über einen Sprengsatz an Bord reicht aus, um eine sichere außerplanmäßige Landung auf einem Flughafen zu gewährleisten", sagte er. Der Experte erinnerte auch an den Fall der zwangsweisen Landung eines Flugzeugs mit dem bolivianischen Präsidenten Evo Morales an Bord in Österreich im Sommer 2013 – auf den Druck der US-Behörden.

Was war damals geschehen? Nachdem in den USA die Vermutung aufgekommen war, dass sich der US-amerikanische Ex-Geheimdienstler und Whistleblower Edward Snowden mit an Bord der Maschine von Präsident Morales befinden könnte, war der aus Moskau nach La Paz fliegende bolivianische Regierungs-Jet im Juli 2013 in Wien-Schwechat gelandet – offiziell wegen des Entzugs von Überflugrechten sowohl für Spanien und Portugal als auch Frankreich. Der von den USA zur Fahndung ausgeschriebene Snowden befand sich damals jedoch nicht an Bord, wie auch die Flughafenpolizei in Wien im Rahmen einer "Nachschau" dann feststellen musste. Der Präsident Evo Morales flog schließlich nach einem 13-stündigen Zwangsaufenthalt in Österreich weiter in seine Heimat. 

"Jedes Land, auf dessen Territorium ein Flug gerade stattfindet, hat das Recht, den Piloten verbindliche Anweisungen zu geben. Auch die Tatsache, dass ein Militärjet in die Luft gebracht wurde, um das Flugzeug für die Landung zu begleiten, liegt in der Obhut des weißrussischen Oberbefehlshabers", sagte die Juristin Ekaterina Orlowa. Ein endgültiges Urteil könne jedoch die Untersuchung der Internationalen Luftfahrtbehörde ergeben.

Auch der Chefredakteur des Portals Avia.ru Roman Gussarow sieht in den Handlungen von Weißrussland keine Verstöße gegen die internationalen Luftfahrtregeln. "Weißrussland ist als Mitglied der ICAO (Internationale Zivilluftorganisation) gegenüber der internationalen Gemeinschaft für die Sicherheit der zivilen Flüge in seinem Luftraum verantwortlich. Dementsprechend ist jede Maßnahme, die es ergreift, um diese Sicherheit zu gewährleisten, absolut legal", sagte Gussarow. Hätte Minsk nicht auf die Bombenwarnung reagiert, würde es dafür die Verantwortung tragen müssen, so der Experte.

Selbst die Begleitung des Zivil-Flugzeugs durch ein MiG-29-Kampfflugzeug sei nicht regelwidrig, da es keinerlei Beweise dafür gebe, dass der Kampfjet das Verkehrsflugzeug etwa bedroht oder gefährliche Manöver durchgeführt hätte, sagte Gussarow. Nur "dann würde sich die Frage nach der Rechtmäßigkeit einer solchen Nötigung stellen. In diesem Fall gab es keinen Zwang. Der Pilot folgte den Anweisungen des Lotsendienstes (...) Die ICAO ist eine unpolitische Organisation, die die Sicherheit der Passagiere priorisiert (…) Es gab ein Signal, die Spezialdienste haben darauf reagiert, nichts ist passiert", sagte der Experte.

Laut dem Rechtsanwalt Alexej Jeltunow gibt es in diesem Fall keine groben Verstöße gegen internationale Konventionen. Fraglich sei jedoch die Situation mit dem Militärjet. "Ich verstehe nicht ganz, warum ein Kampfflugzeug in der Luft war, obwohl der Chefpilot des Flugzeugs, nach den Veröffentlichungen zu urteilen, die Landung nicht verweigert hat", betonte er.

Die weißrussischen Medien veröffentlichten am Sonntag zwei Auszüge aus den Gesprächen zwischen den Fluglotsen und Piloten im Flugzeug. Wie aus dem ersten Fragment hervorgeht, erhielt der Sicherheitsdienst des Flughafens (welcher, ist nicht angegeben) per E-Mail eine Nachricht  über den Sprengsatz an Bord der Flugmaschine. In der zweiten Aufnahme fragt der Fluglotse die Ryanair-Besatzung. "Diese Empfehlung, in Minsk zu landen, die sie erhalten haben, woher kam sie – kam sie von der Fluggesellschaft, vom Abflug- oder vom Ankunftsflughafen?" Die Flugzeugbesatzung antwortete, dass es ihre Empfehlung gewesen sei. Diese Aufzeichnungen bestätigen also, dass die Flugzeugbesatzung die Entscheidung zur Landung selbständig traf.

Das weißrussische Außenministerium reagierte  auf die Vorwürfe mit Unverständnis. Die Äußerungen der EU-Vertreter nannte es "militant" und "politisiert". Das Außenamt wies darauf hin, dass die Handlungen der belarussischen Behörden "voll und ganz im Einklang mit den etablierten internationalen Regeln" stünden, an die sich Belarus "immer verantwortungsvoll" gehalten habe. "Dies wird von den zuständigen Regulierungsbehörden im Luftfahrtsektor anerkannt". Minsk sei bereit, volle Transparenz zu garantieren und, wenn nötig, Experten vorzuladen, "um Unterstellungen auszuschließen", fügte das Außenamt hinzu.

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