Im Vorfeld der beschlossenen und nun abgesegneten Novelle des Infektionsschutzgesetzes war wiederholt von einer sogenannten "Oxford-Studie" zu hören. So sinke laut der "in 117 Regionen" durchgeführten Studie durch die Ausgangssperre der R-Wert um 12 bis 20 Prozent (durchschnittlich um 15 Prozent), so etwa der SPD-Politiker und Mediziner Karl Lauterbach in der ARD-Sendung Maischberger. "Die Notbremse wird wahrscheinlich nicht reichen", prognostizierte Lauterbach.
Zur Rechtfertigung der Ausgangsbeschränkungen – in Kombination mit weiteren Maßnahmen – reagierte auch die Bundeskanzlerin Merkel laut The European "indirekt auf eine Oxford-Studie", die zu dem Schluss käme, dass strenge Kontaktverbote den R-Wert deutlich reduzieren.
"Das Virus lässt nicht mit sich verhandeln, es versteht nur eine einzige Sprache, die Sprache der Entschlossenheit."
Die Zeit wusste Ende März zu berichten, dass strenge Kontaktbeschränkungen "einer aktuellen Studie zufolge zu den wirksamsten Corona-Maßnahmen" zählten. Das gehe "aus einer Auswertung von Forschern der Universität Oxford und anderen europäischen Wissenschaftlerinnen hervor". Dadurch könne der sogenannte R-Wert gar um 26 Prozent reduziert werden. Nun sind die Ausgangssperre ab einer Inzidenz von 100 beschlossene Sache.
Einen entscheidenden Haken hat die Sache jedoch: Die derart in den zentralen Fokus gerückte Studie aus Großbritannien lässt sich demzufolge nicht ohne weiteres auf die Situation in Deutschland übertragen.
So gab etwa einer der Mitautoren dieser vielzitierten Studie gegenüber dem ARD-Magazin Monitor zu bedenken, dass es sich bei den in Deutschland gemachten Schlussfolgerungen über den Effekt der Ausgangssperre um "Fehlinterpretationen" handele. Sören Mindermann unterstreicht demzufolge, dass die Studie "große Unsicherheits-Margen" habe und nicht einfach auf die derzeitige Situation in Deutschland übertragbar sei.
Die Autoren der Studie weisen selbst darauf hin, dass es sich bei ihrer Arbeit lediglich um einen Vorabdruck handele, der noch nicht von Fachleuten wissenschaftlich begutachtet worden sei:
"Sie berichtet über neue medizinische Forschung, die noch nicht ausgewertet wurde und daher nicht als Leitfaden für die klinische Praxis verwendet werden sollte."
Zudem weisen die Wissenschaftler darauf hin, dass "keine einzelne Wirksamkeitsschätzung (…) für alle Regionen gelten" könne. Es sei daher geboten, die abgegebenen "Schätzungen mit dem Urteil von Experten" zu kombinieren, um sie anhand dessen "an lokale und aktuelle Gegebenheiten anzupassen".
Die Studie leitet die Effektivität von nächtlichen Ausgangssperren gemäß Daten aus verschiedenen europäischen Ländern ab. Die Studienautoren weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die jeweils untersuchten Ausgangsbeschränkungen zu unterschiedlichen Tageszeiten eingesetzt hätten und unterschiedlich lange dauerten.
Darüber hinaus ließen sich die für die Studie verwendeten Daten der sogenannten zweiten Welle "nicht einfach so auf die dritte Welle übertragen".
Neben dem Vorwurf der mutmaßlichen Verfassungswidrigkeit wird immer wieder Kritik am Instrument der Ausgangssperren als einem wirklich effektiven Mittel zur Eindämmung des "Infektionsgeschehens" laut.
So sprach sich der renommierte Epidemiologe John Ioannidis von der Universität Stanford zuletzt Mitte März gegen harte Lockdowns als zentrales Werkzeug im Kampf gegen COVID-19 aus. Entsprechende Maßnahmen brächten keinen Nutzen und könnten vielmehr sogar schaden.
Jüngstes Beispiel für solche Kritik liefert der kanadische Ökonom Douglas Allen, der in einer englischsprachigen Analyse mit dem sinngemäßen Titel "COVID-Lockdown: Kosten und Nutzen. Eine kritische Bewertung der Literatur" feststellte: Lockdowns hätten bestenfalls einen geringfügigen Einfluss auf die Anzahl an Todesfällen im Zusammenhang mit COVID-19. Die positiven Effekte eines Lockdowns werden seiner Meinung nach überschätzt, während die Folgeschäden für die Wirtschaft und Gesellschaft oft ausgeblendet würden.
Mehr zum Thema - Stanford-Studie belegt Unwirksamkeit harter Lockdowns