Das sogenannte "Sofagate" ist zurück in der politischen Debatte – drei Wochen nachdem EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei einem offiziellen Staatsbesuch statt auf einem Stuhl neben dem türkischen Präsidenten Recep Erdoğan auf einem Sofa gegenüber vom türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu Platz nehmen musste. Gestern erhob von der Leyen bei einer Debatte des EU-Parlamentes über die Ergebnisse des EU-Türkei-Treffens schwere Vorwürfe. Sie gab an, sich persönlich gedemütigt zu fühlen:
"Ich fühlte mich verletzt und alleingelassen, als Frau und als Europäerin."
Von der Leyen argumentierte, sie sei nicht ihrem Amt gemäß behandelt worden, weil sie eine Frau sei. Wenn sie einen Anzug mit Krawatte getragen hätte, wäre ihr das nicht passiert. Für sie steht der Vorfall in einem direkten Kontext mit der Frage von Frauenrechten:
"Ich kann in den Europäischen Verträgen keine Erklärung für meine Behandlung finden. Deshalb muss ich den Schluss ziehen, dass ich so behandelt wurde, weil ich eine Frau bin."
Die EU-Kommissionspräsidentin nutzte die Gelegenheit, um die Türkei erneut für den Rückzug aus der Istanbul-Konvention zu kritisieren, ein vom Europarat 2011 ausgehandeltes "Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt". Die türkische Regierung hatte am 20. März ihren Austritt aus der Istanbul-Konvention angekündigt, da diese aus ihrer Sicht dazu benutzt werde, die Homosexualität zur normalisieren. Die türkische Regierung verwies auf sechs weitere EU-Staaten (Bulgarien, Ungarn, Tschechien, Lettland, Litauen und die Slowakei), welche die Konvention nicht ratifiziert hätten.
Für von der Leyen steht ihre Behandlung symbolisch für das, was Millionen von Frauen täglich erleiden müssten. Der "Sofagate"-Vorfall zeige, "wie weit der Weg noch ist, bis Frauen als Gleiche behandelt werden". Sie selbst sei jedoch privilegiert und könne sich wehren. Von der Leyen kündigte an, der Respekt für Frauenrechte sei wichtige Voraussetzung für die Wiederaufnahme des Dialoges sowie die Ausweitung gemeinsamer Programme zwischen der EU und der Türkei. Sie forderte laut dpa zudem eine weitere Deeskalation im östlichen Mittelmeer sowie die Achtung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.
"Das sind unsere Bedingungen für eine Vertiefung unserer wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Türkei."
Zuspruch aus dem EU-Parlament – Kritik an EU-Ratspräsident Michel
Die Argumentation von der Leyens wurde von zahlreichen Abgeordneten des EU-Parlamentes unterstützt. Kritisiert wurde auch das Auftreten der EU-Repräsentanten – insbesondere EU-Ratspräsident Charles Michel. Michel hatte am 7. April den Ehrenplatz neben Erdoğan bekommen und nicht dagegen protestiert. Die Co-Vorsitzende der Grünen-Fraktion im EU-Parlament, Ska Keller, griff Michel an und unterstellte, die Angelegenheit sei eine persönliche Sache:
"Wenn Sie die Kommissionspräsidentin so behandeln, dann kann keine Frau eine andere Behandlung erwarten!"
Die Sozialdemokratin Iratxe García Pérez zeigte sich enttäuscht über das beschämende Bild, das die EU hinterlassen habe. Der Fraktionschef der Christdemokraten Manfred Weber (CSU) sagte, Ziel des Türkeibesuches sei eine Botschaft der Stärke, die Wirkung dagegen eine Botschaft der Schwäche und der Uneinigkeit gewesen. Der Liberale Malik Azmani sprach von einer Führungskrise, der Rechtsnationale Marco Zanni bescheinigte der EU-Spitze ein Totalversagen in Ankara.
Michel selbst rechtfertigte sich erneut, nicht gegen das Protokoll und die Zuweisung seines Platzes protestiert zu haben. Der EU-Ratspräsident betonte, er habe nicht monatelange Arbeit zur Vorbereitung des Besuches zunichtemachen wollen. Eine derartige Situation werde sich aber nicht wiederholen. Bereits unmittelbar nach dem "Sofagate" hatte Michel sich öffentlich zu Wort gemeldet und sein Bedauern artikuliert. Er selbst habe ein schlechtes Gewissen und könne "seither nachts nicht gut schlafen".
Ein Machtkampf innerhalb der EU im Hintergrund?
Zur Frage des "Sofagates" hat der ehemalige Vize-Protokollchef des österreichischen Kanzleramtes, Thomas Sladko, in einem Beitrag argumentiert, dass es sich vornehmlich um eine Frage des Protokolls handelte. Im Protokoll werde primär darauf geachtet, wer welche Institution vertritt – nicht welches Geschlecht ein Repräsentant habe. Zudem werden Protokollfragen in der Regel von beiden Seiten abgeklärt. Es sei unwahrscheinlich, dass Erdoğan oder die Türkei eigenmächtig gehandelt haben. Zwischen den Protokollbeauftragten der EU und der Türkei werde es aller Wahrscheinlichkeit nach eine Absprache gegeben haben, dass Michel direkt neben Erdoğan sitzen solle, von der Leyen auf einer Höhe mit dem türkischen Außenminister.
Die im "Sofagate" veranschaulichte Sitzplatzverteilung repräsentiert dementsprechend weniger eine Genderfrage, sondern mehr eine Frage der Hierarchie innerhalb der EU. Die Tagesschau titelte bereits Mitte April von einem "Machtkampf" innerhalb der EU. Laut der Tagesschau ist die Hierarchie innerhalb der EU nach Themen ausgerichtet. So soll die Kommissionsvorsitzende die EU in Fragen des Umweltschutzes, der Digitalisierung oder der Migration vertreten. Bei allen anderen Fragen der Außenpolitik oder etwa der Sicherheitspolitik ist der Ratspräsident als oberster EU-Repräsentant zuständig.
Die EU selbst stellt auf ihrer Webseite drei EU-Präsidenten vor: den Präsidenten des Europäischen Parlamentes, David-Maria Sassoli, den Präsidenten des Europäischen Rates, Charles Michel und die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen.
Als Befugnisse des Ratspräsidenten werden genannt:
- "Leitende Funktion bei der Festlegung der allgemeinen politischen Ausrichtung und der Prioritäten der EU in Zusammenarbeit mit der Kommission
- Förderung von Zusammenhalt und Einvernehmen innerhalb des Europäischen Rates
- Vertretung der EU nach außen und in Sicherheitsfragen"
Als Befugnisse des Kommissionspräsidenten werden genannt:
- "Politische Führung der Kommission
- Leitende Funktion bei der Umsetzung der EU-Politik durch die Kommission
- Teilnahme an G7-Tagungen
- Beteiligung an Grundsatzdebatten im Europäischen Parlament sowie zwischen den Regierungen der EU-Länder im Rat der Europäischen Union"
Über das "Sofagate" wurde nun sichtbar, dass in bestimmten Fällen Unklarheit besteht, wer als oberster Repräsentant der EU fungiert. Im Fall des Treffens mit der Türkei ging es auch um das Thema Migration, für das die EU-Kommissionspräsidentin zuständig ist. Es ging aber ebenso um die EU-Außenpolitik im Allgemeinen und womöglich auch um Fragen der Sicherheitspolitik. Dementsprechend wäre der EU-Ratspräsident der ranghöchste Ansprechpartner für Erdoğan und die Türkei.
Auch die ehemalige österreichische Außenministerin Karin Kneissl zeigte sich auf Anfrage von RT DE "überrascht" über den Auftritt von Ursula von der Leyen vor dem EU-Parlament.
"Es ist absolut unüblich, eine Protokollfrage drei Wochen nach dem Besuch wieder aufzuwärmen. Habe den Eindruck, dass VDL das Thema emotional und nicht rational angeht. Charles Michel, der Ratspräsident, ist protokollarisch höherrangig. Nun die Karte der verletzten Frau zu spielen, ist nicht klug."
Kneissl sieht in diesem aufgebauschten "Sofagate" von der Leyens einen "typischen Fall von überschäumender Gefühlslage und fehlender Vernunft", was aber angesichts der zahlreichen und vielschichtigen Probleme in der EU fehl am Platze sei.
Für Martin Schirdewan, dem Co-Vorsitzenden der europäischen Linksfraktion, verbirgt sich hinter dem "Kompetenzgerangel" ein "wirkliches politisches Problem" – nämlich, "dass Kommission und Rat für sich die Meinungsführerschaft in außenpolitischen Fragen beanspruchen". Ähnlich sieht es auch Iratxe García, die Vorsitzende der sozialdemokratischen Fraktion. Für sie ist die Situation ein Anlass, um die Kompetenzfragen zwischen Ratspräsidenten und Kommissionschefin zu klären, da sich "solch eine Situation nicht wiederholen darf". Der Vorsitzende der konservativen EVP, Manfred Weber (CSU), betonte:
"Durch das sogenannte Sofagate wurde die Zerstrittenheit und die Schwäche auch der Europäischen Union symbolisiert. Zukünftig muss klar sein, dass Kommission und Rat gleichwertig die Interessen der Europäischen Union vertreten und vor allem koordiniert auftreten."
Nach Medienberichten legte ein Team der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen dem Ratspräsidenten ein Fünf-Punkte-Papier vor, um eine Gleichberechtigung zwischen den Institutionen nach außen herzustellen. Demnach würde es keinen Unterschied mehr in Protokollfragen geben. Der EU-Rat bewertete damals den Vorstoß skeptisch und als einen Versuch Ursula von der Leyens und ihrer Kommission, die eigene Position gegenüber dem Rat zu stärken. In dem vorgelegten Papier gebe es "eine Reihe von Bedingungen" mit dem Ziel, "den Europäischen Rat zu schwächen", sagte ein Ratsvertreter und die Nachrichtenagentur AFP machte deutlich:
"Die Kommission nutzt jetzt diesen Vorfall aus."
Von der Leyens Sprecher wies diese Darstellung umgehend zurück. Das gestrige Vorgehen von der Leyens vor dem EU-Parlament kann jedoch als nachdrücklicher Schritt in die gleiche Richtung betrachtet werden.
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