Am Dienstag war es soweit: Das Bundeskabinett beschloss die Änderung des Infektionsschutzgesetzes – samt den umstrittenen Ausgangssperren. Die Entscheidung muss nun noch von Bundestag und Bundesrat abgesegnet werden.
Über Wochen war zuvor über die Ausbreitung der "Dritten Welle" wenig kontrovers innerhalb der Regierung diskutiert worden. Bundeskanzlerin Merkel gab den Takt vor. In Hinblick auf die demzufolge aus Großbritannien stammende Virusvariante B.1.1.7 hatte Merkel Ende März von einer "neuen" Pandemie gesprochen, die drauf und dran sei, Deutschland zu erobern. Deutlich tödlicher sei diese obendrein.
"Im Wesentlichen haben wir ein neues Virus, natürlich derselben Art, aber mit ganz anderen Eigenschaften – deutlich tödlicher, deutlich infektiöser, länger infektiöser."
Bei Bekanntgabe der Bund-Länder-Beschlüsse argumentierte Merkel ferner, dass es sich bei der britischen Variante "um ein neues Virus mit ganz anderen Eigenschaften" handele. Die Verlängerung des Lockdowns fand ihre Begründung und damit einhergehend nun auch die Änderung des Infektionsschutzgesetzes.
Begleitet wurde die Entwicklung von Schlagzeilen, wonach die britische Variante um "64 Prozent tödlicher" sei. Hintergrund war u. a. eine Studie der britischen Universität Exeter, der zufolge bei 4,1 von 1.000 Infizierten eine Erkrankung mit SARS-CoV-2 tödlich ende.
Die New and Emerging Respiratory Virus Threats Advisory Group (Nervtag) formulierte es vorsichtiger: Es sei "wahrscheinlich", dass die britische Variante im Vergleich mit anderen Formen des Erregers zu mehr Todesfällen und Krankenhausaufenthalten führe, berichtete das Beratungsgremium der britischen Regierung im Februar. Das absolute Risiko, an einer Infektion zu sterben, bleibe aber auch bei der neuen Variante gering.
Und während demzufolge wenig Zweifel daran bestehe, dass sich die britische Mutante zumindest schneller ausbreitet (in Deutschland sollen nunmehr 80 Prozent der "Neuinfektionen" auf ihr Konto gehen), warteten britische Wissenschaftler am Dienstag nun mit neuen Studienergebnisse auf.
In der am 12. April im Fachmagazin The Lancet Infectious Deseases veröffentlichten Studie sequenzierten Wissenschaftler unter der Leitung von Dr. Eleni Nastouli, außerordentliche Professorin für Infektionen, Immunität und Entzündungen am University College of London, das Virus aus den Proben von 341 Personen, die zwischen November und Dezember 2020 in zwei Krankenhäusern in London positiv auf COVID-19 getestet worden waren. Zu jenem Zeitpunkt also, als die neue Variante begann, Schlagzeilen zu machen.
Grundlage der Studie bildete die Auswertung von Krankenhausdaten von 341 Patienten zwischen dem 9. November und dem 20. Dezember, bei denen eine vollständige Sequenzierung des Viren-Erbgutes gelang. 198 (58 Prozent) der Londoner Patienten waren demzufolge mit B.1.1.7 infiziert, 143 (42 Prozent) mit anderen Varianten.
Zwar gebe es "zunehmend Hinweise auf eine erhöhte Übertragbarkeit" der britischen Variante des Erregers, so die Experten, doch den Wissenschaftlern gelang es dabei nicht, den Nachweis für eine höhere Sterblichkeit bei einer Infektion mit B.1.1.7 zu erbringen. Vielmehr starben 31 (16 Prozent) von 198 Patienten mit der britischen Mutation des SARS-CoV-2-Erregers innerhalb von 28 Tagen, gegenüber 24 (17 Prozent) von 141 Patienten mit anderen Varianten. Also habe man "kein übermäßiges Mortalitätsrisiko in Verbindung mit B.1.1.7" feststellen können.
Feststellbar sei jedoch gewesen, dass die Patienten insgesamt jünger waren, weniger Vorerkrankungen aufwiesen und eher einer ethnischen Minderheit angehörten als die Patienten mit dem sogenannten Wild-Typ des Erregers.
Als eine der Stärken ihrer Studie bezeichnen die Experten den Zeitpunkt der Untersuchung. Dieser habe mehrere Wochen vor dem Höhepunkt der Krankenhauseinweisungen in London und vor einer wesentlichen Ressourcenbegrenzung oder Belastung der klinischen Versorgung gelegen.
Die britischen Mediziner halten fest, dass man nach Berücksichtigung von Geschlecht, Alter, Vorerkrankungen und Ethnizität keinen Unterschied bei der Schwere des Krankheitsverlaufes oder der Sterblichkeit bei B.1.1.7-Patienten und Nicht-B.1.1.7-Patienten habe finden können.
In einer zweiten Studie, ebenfalls veröffentlicht am 12. April in The Lancet Public Health, konnte demzufolge der Nachweis erbracht werden, dass die Anfang des Jahres nachgewiesene Variante zumindest tatsächlich ansteckender sei, wobei die erhöhte Übertragungsrate bei 35 Prozent läge.
Grundlage der Analyse war ein vollkommen anderer Datensatz als bei der im Lancet Infectioud Deseases veröffentlichen Studie. Die Daten stammten in diesem Fall von 36.000 Teilnehmern der COVID Symptom Study, einer laufenden Umfrage unter vier Millionen Briten. Diese hatten sich bereit erklärt, anhand einer App täglich über ihr Befinden, mögliche Symptome und Corona-Testergebnisse zu berichten.
Kombiniert wurden die erhaltenen Informationen mit Daten des COVID-19 Genomics UK Consortium. Dort werden nach dem Zufallsprinzip Viren aus positiven Testproben sequenziert, um anhand derer herauszufinden, welcher Anteil der positiven Tests die Variante B.1.1.7 enthielt. Mark Graham vom King's College London und Hauptautor der Studie hält fest:
"Wir haben keine Veränderung in der Art der Symptome oder der Gesamtzahl der Symptome bei Menschen mit B.1.1.7 gefunden".
Zudem deuteten die gewonnenen Daten darauf hin, dass "B.1.1.7 nicht wirklich" einen wesentlichen Effekt auf eine mögliche erneute Infektion habe, und die Immunität, die durch frühere Infektionen mit COVID entwickelt wurde, wohl auch gegen die Mutante ausreichend schütze.
Die Autoren beider Studien weisen darauf hin, dass ihre Erkenntnisse zur britischen Mutation des Coronavirus nicht abschließend seien und weitere Forschung geboten ist. Die Time vergleicht die Studienergebnisse mit denen, die am 15. März im Magazin Nature veröffentlicht wurden, und die zu gänzlich anderen Ergebnissen kam. Laut Time verwendeten die Forscher des Nature-Artikels jedoch unter anderem keine genetische Sequenzierung von positiven Proben, um das Vorhandensein von B.1.1.7 zu bestätigen, wie es Nastouli und ihr Team taten, sondern verließen sich stattdessen auf eine "andere Methode zum Nachweis der Variante, die etwas indirekter und möglicherweise weniger genau war".
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