Seit mehreren Tagen kommt es in Nordirland zu nächtlichen Ausschreitungen. Bislang wurden nach Behördenangaben mehr als 40 Polizisten dabei verletzt. Als vorläufigen Höhepunkt setzten Jugendliche gestern in Belfast einen Doppeldeckerbus in Brand. Der Vorfall ereignete sich an einer Kreuzung zwischen einem pro-britischen, protestantischen und einem pro-irischen, katholischen Wohnviertel – in der Nähe der sogenannten "Friedensmauer", die beide Bereiche voneinander trennt.
In den sozialen Medien kursieren Videoaufnahmen, die zeigen, wie vermummte Jugendliche den Bus bei der Shankill Road im Westen von Belfast noch mit dem Fahrer am Steuer mit Steinen angreifen und schließlich einen Molotowcocktail werfen und den Bus damit in Brand setzen. Dieser brannte völlig aus, der Fahrer konnte sich retten.
Die nordirische Polizei (PSNI) rief die Bevölkerung auf, bestimmte Areale im Stadtgebiet zu meiden. Polizeikräfte riegelten mehrere Straßen ab – insbesondere die Springfield Road –, um zu verhindern, dass pro-irische und pro-britische Protestgruppen aufeinandertreffen. Polizisten wurden mit Steinen beworfen, auch ein Pressefotograf der Zeitung Belfast Telegraph wurde attackiert.
Nach Ansicht der Sicherheitsbehörden stecken hinter den Angriffen auch militante pro-britische Gruppierungen – so zum Beispiel Sektionen der Ulster Defence Association (UDA) und der Ulster Volunteer Force (UVF). Diese sind mit dem Sonderstatus von Nordirland als Folge des Austritts von Großbritannien aus der EU unzufrieden und fürchten eine Annäherung Nordirlands an die Republik Irland.
Sechste Nacht mit Ausschreitungen in Folge
Die aktuellen Ausschreitungen entzündeten sich an einer Entscheidung der Staatsanwaltschaft, hochrangige Politiker der pro-irischen Partei Sinn Féin nach der Teilnahme an einer großen Beerdigung eines ehemaligen IRA-Aktivisten nicht wegen Verstößen gegen die Corona-Regeln zu belangen. Anhänger der Union Nordirlands mit dem Vereinigten Königreich sahen darin eine Bevorzugung der pro-irischen Seite.
Seit dem 2. April fanden insbesondere in Belfast, aber auch in den nordirischen Städten wie etwa Londonderry und Carrickfergus gewaltsame Proteste statt – mit brennenden Autos und Angriffen auf Polizisten. In Belfast versuchten Gruppen mehrfach die Sperren zwischen den protestantischen und katholischen Bezirken zu durchbrechen.
Mit dem Abfackeln des Busses am 7. April in Belfast haben die Ausschreitungen einen Höhepunkt erreicht. Britische, irische und nordirische Politiker verurteilten die gewaltsamen Aktionen. Der britische Premierminister Boris Johnson meldete sich per Twitter zu Wort und zeigte sich "tief besorgt über die Bilder der Gewalt in Nordirland". Er forderte die Protestierenden auf, die Konflikte friedlich zu lösen:
"Der Weg, um die Differenzen zu lösen, läuft über den Dialog, nicht über Gewalt oder Kriminalität."
Ähnlich äußerte sich der irische Ministerpräsident Micheál Martin. Er verurteilte die Gewalt und die "Angriffe auf die Polizei". Der "einzige Weg nach vorn" sei der über "friedliche und demokratische Mittel". Es sei an der Zeit, dass die irische und die britische Regierung sowie die Führer aller Beteiligten Gruppierungen zusammenarbeiten, "um die Unruhen zu besänftigen".
Die Erste Ministerin Nordirlands, Arlene Foster, brachte über Twitter ihr Entsetzen über den Angriff auf den Bus zum Ausdruck:
"Das ist kein Protest. Das ist Vandalismus und versuchter Mord. Diese Aktionen repräsentieren nicht den Unionismus oder Loyalismus. Sie sind eine Schande für Nordirland und dienen allein dazu, den Fokus von den wahren Gesetzesbrechern von Sinn Féin zu nehmen. Meine Gedanken sind bei dem Busfahrer."
Droht ein neuer Nordirlandkonflikt?
Die aktuellen Ausschreitungen gehören zu den schwersten, seitdem mit dem Karfreitagsabkommen 1998 der Nordirlandkonflikt beruhigt wurde. Die Spannungen in Nordirland haben seit dem Brexit deutlich zugenommen, da Nordirland seitdem nicht mehr zur EU gehört – Irland jedoch schon. Im Brexit-Abkommen wurde für Nordirland ein Sonderstatus festgelegt. Durch diesen verbleibt Nordirland de facto innerhalb des EU-Handelsraums. Es gibt keine Grenzkontrollen an der Landgrenze zur Republik Irland. Die entsprechenden Kontrollen finden in den nordirischen Häfen statt, wenn Waren aus den anderen Teilen des Vereinigten Königreichs nach Nordirland kommen.
Von pro-britischen Unionisten wird das Brexit-Abkommen als Bedrohung für ihre Union mit dem Vereinigten Königreich wahrgenommen. Entsprechend äußerte sich der Loyalist Communities Council (LCC), eine politische Dachorganisation pro-britischer Gruppierungen wie der UDA und UVF. Die de facto geschaffene Seegrenze isoliere sie von Großbritannien und rücke eine Einheit mit Irland in die Nähe. In einer Erklärung Anfang März drohte der LCC mit einem Rückzug vom Karfreitagsabkommen von 1998, wenn das Brexit-Protokoll weiter bestehen bleibe, das das Recht auf ungehinderten Verkehr von Waren und Bürgern innerhalb des Vereinigten Königreichs bedrohe.
LCC-Sprecher David Campbell sprach laut der Nachrichtenplattform Belfast Live eine unmissverständliche Warnung aus:
"Es kann leicht passieren, dass die Dinge aus dem Ruder laufen, deshalb ist ein Dialog dringend notwendig."
Für die irische Partei Sinn Féin steht fest, dass die Unruhen auf das Konto pro-britischer Gruppierungen gehen. Der Sinn Féin-Abgeordnete Gerry Kelly betont insbesondere die Rolle der Democratic Unionist Party (DUP), der auch die Erste Ministerin Foster angehört, wie auch der nordirischen Polizei als Teil eines "kriminellen Justizsystems":
"Durch ihre Worte und Taten haben sie eine sehr gefährliche Nachricht an junge Menschen in loyalistischen Wohngegenden gesendet."
Die DUP sieht hingegen Sinn Féin und deren Missachtung von Corona-Maßnahmen in der Verantwortung. Die DUP-Abgeordnete Carla Lockhart äußerte:
"Sinn Féins arrogante Missachtung von Corona-Regeln ist der wahre Grund der politischen Krise. Gesetz und Ordnung sind die Eckpfeiler einer zivilisierten Gesellschaft. Wenn es einen Doppelstandard der Polizei gibt, untergräbt das den Respekt vor dem Gesetz."
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