Am 9. März stimmte das EU-Parlament für die Aufhebung der Immunität der drei katalanischen Abgeordneten Carles Puigdemont, Toni Comín und Clara Ponsatí. Damit droht dem ehemaligen katalanischen Präsidenten Puigdemont und dessen Mitstreitern eine Abschiebung nach Spanien – und möglicherweise eine Haftstrafe von bis zu 13 Jahren.
Spanien hat Haftbefehle gegen Puigdemont und weitere Mitglieder der katalanischen Regionalregierung wegen ihrer führenden Rolle in dem katalanischen Unabhängigkeitsreferendum im Oktober 2017 erlassen. Die Anklagepunkte lauteten: Aufwiegelung und Rebellion. Puigdemont sah sich gezwungen, ins Exil zu gehen. Nach einer kurzen Inhaftierung 2018 in Deutschland – das Schleswig-Holsteinische Oberlandesgericht weigerte sich jedoch, ihn nach Spanien auszuliefern – begab er sich nach Brüssel, wo er seit 2019 Abgeordneter des EU-Parlaments ist.
In einem Interview mit RT sprach Puigdemont über die Bedeutung der katalanischen Krise für die EU und das Versagen der EU-Institutionen gegenüber der politisch motivierten Strafverfolgung durch den spanischen Staat. Die Aufhebung seiner Immunität und die seiner katalanischen Mitstreiter sei "eine klare Bedrohung für die Grundlagen der europäischen Demokratie". Puigdemont konkretisiert:
"Wenn ein Abgeordneter des EU-Parlaments politisch verfolgt wird und das Parlament darin versagt, seine Immunität zu schützen, dann ist das sein sehr schlechtes Signal an den Rest der Welt. [...] Das untergräbt die Autorität der EU, in anderen Teilen der Welt belehrend in Sachen Menschenrechte aufzutreten."
In seinem Fall bestünde ein hohes Risiko, dass ihn in Spanien kein fairer Prozess erwarte. Das hatten auch mehrere belgische Richter in seinem Fall argumentiert und daher den Auslieferersuchen seitens Spanien widersprochen. Zudem gebe es in Belgien nicht den Tatbestand der Aufwiegelung oder Rebellion. Insofern sei er als Katalane glücklich, dass es die EU gebe. Ohne die EU würde er wahrscheinlich schon in einem spanischen Gefängnis sitzen.
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Ein katalanischer Präsident verhaftet von der deutschen Polizei
Diesbezüglich habe er Erfahrungen in Schleswig-Holstein sammeln können. Der ehemalige katalanische Präsident betonte die historische Bedeutung, dass er von der deutschen Polizei festgenommen wurde.
"Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte, dass die deutsche Polizei einen katalanischen Präsidenten verhaftet. Einer meiner Vorgänger, Lluís Companys i Jover, wurde 1940 in Frankreich verhaftet, wohin er geflohen war nach dem Fall von Barcelona – nach dem Sieg des Faschismus. Er wurde von der Gestapo verhaftet, die ihn nach Spanien abschob, wo er hingerichtet wurde."
Puigdemont hob die Unterstützung hervor, die das faschistische Spanien unter Francisco Franco von Deutschland und anderen, nicht faschistischen Nationen Europas – darunter auch Großbritannien – erhalten habe. "Gott sei Dank", lebe er nicht 1940 und Deutschland sei "heute eine Demokratie". Daher habe man ihn nach zwölf Tagen frei gelassen, weil die Anschuldigungen Spaniens "nicht akzeptabel" für eine "westliche Demokratie" seien. Auch wenn die deutsche Politik vermutlich gegen eine katalanische Unabhängigkeit sei, ließ es sich nicht von der Hand weisen, dass es "einfach lächerlich" war, "dass ein europäischer Politiker in einem deutschen Gefängnis für Anklagepunkte saß, die wie aus dem 19. Jahrhundert klingen".
Nach wie vor drohe ihm und seinen Mitstreitern aber die Gefahr, nach Spanien abgeschoben zu werden. Die Aufhebung seiner Immunität sei ein Schritt, um solch ein Verfahren zu ermöglichen. Es sei "schändlich" für die EU-Institutionen, dass sie an einem "so eindeutig politisch motivierten Prozess" teilnähmen, dass sie sich zum "Werkzeug" und "Komplizen" dessen machen würden.
Auf die Frage, ob ein vergleichbares Szenario auch anderen europäischen Befürwortern von Unabhängigkeitsbewegungen widerfahren könnte – etwa Nicola Sturgeon in Schottland oder den Vertretern der flämischen Separatisten –, antwortet Puigdemont:
"Nein, absolut nicht. Das ist nicht vorstellbar. Es gibt keinen vergleichbaren Fall bei den schottischen Befürwortern der Unabhängigkeit, den Flamen oder im Fall von Quebec in Kanada. Sie haben ein ähnliches Referendum, wie in unserem Fall, durchgeführt. Und nichts ist passiert. Keiner von ihnen wurde angeklagt oder gar ins Gefängnis geworfen – wie in Spanien, wo Haftstrafen zwischen neun und 13 Jahren verhängt wurden für das Vergehen ein Referendum einberufen zu haben. Das ist einfach unvorstellbar."
Ebenso unvorstellbar sei aber das Verhalten der EU-Institutionen angesichts "so fundamentaler Verletzungen der Menschenrechte". Von Spanien habe er nichts anderes erwartet als eine derartig autoritäre Reaktion. Aber von der EU ist Puigdemont "sehr enttäuscht". Die EU habe darin versagt, Spanien eine klare Botschaft zu senden: "So nicht, ihr müsst eure politischen Konflikte mit politischen, demokratischen Mitteln lösen". Zu leichtfertig habe man über Katalonien hinweggesehen und vergessen:
"Wir Katalanen, wir sind Teil von Europa. Und unsere Krise ist eine europäische Krise. Die europäische Demokratie wird sich daran messen lassen müssen, wie sie diese Krise bewältigt."
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Der "tiefe Staat in Spanien" führt "einen schmutzigen Krieg gegen Dissidenten"
Vom Interviewer wird angesprochen, dass es von außen so erscheine, als habe die neue spanische Regierung – Anfang 2020 gebildet aus der spanischen Sozialistischen Arbeiterpartei (PSOE) und der Unidas Podemos – eine versöhnliche Haltung gegenüber der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung eingenommen. Darauf erwidert Puigdemont, die neue Regierung habe "nur ihr Vokabular geändert, das ist alles". Ansonsten sei die Politik die gleiche: Katalanen bleiben im Gefängnis, Katalanen bleiben im Exil und der spanische Generalstaatsanwalt verfolgt weiterhin die Anhänger der katalanischen Unabhängigkeit.
Der einzige wirkliche Fürsprecher für eine politische Lösung und eine mögliche Selbstbestimmung der katalanischen Bevölkerung sei der Vorsitzende von Podemos und bisherige Vize-Premierminister Spaniens, Pablo Iglesias Turrión. Zufälligerweise sei Iglesias vor wenigen Tagen (am 15. März) von seinem Posten zurückgetreten – nur einige Tage nachdem das EU-Parlament die Immunität Puigdemonts und seiner Mitstreiter aufgehoben habe.
Abschließend bezog der ehemalige katalanische Präsident Stellung zu den Ende 2020 von Spaniens Nationalen Gerichtshof erhobenen Vorwürfen, die katalanische Unabhängigkeitsbewegung sei ein Produkt russischer Einmischung, seine Befürworter – darunter auch Puigdemont seien russische Agenten, ebenso wie Julian Assange und Edward Snowden. Puigdemont stellt klar:
"Das ist ein Scherz. Es ist unfassbar, dass ein Gericht solchen Fantasien Glauben schenken könne."
Selbstverständlich stehe die katalanische Unabhängigkeitsbewegung solidarisch zu Assange und Snowden. Aber die "surrealen Verbindungen sind eher ein Narrativ für Fake News", die von den spanischen Machthabern auf die Agenda gesetzt würden, um die katalanische Unabhängigkeitsbewegung und deren Repräsentanten zu diskreditieren. Es gebe nicht einen einzigen Beweis für derartige Behauptungen. Diese seien gezielt geschaffen worden.
"Von wem genau?", will der Interviewer wissen. Puigdemont antwortet:
"Vom tiefen Staat in Spanien. Und der spanische tiefe Staat ist derselbe wie in der Franco-Ära. Er ist derselbe, weil der spanische König von Franco eingesetzt wurde. Es gab kein Referendum darüber, ob die Menschen lieber in einer Monarchie oder einer Republik leben wollen. Die meisten Richter sind Teil der rechten Parteien, die spanischen Medien ebenso. Es ist ziemlich normal in Spanien diesen tiefen Staat zu haben, der einen schmutzigen Krieg gegen Dissidenten führt."
Der Interviewer hakt nochmals bezüglich des tiefen Staates nach. Puigdemont macht deutlich:
"Die Polizei, das Rechtssystem, die politischen Machthaber, die Medien – das ist Spaniens tiefer Staat."
Zum Abschluss wird der ehemalige Präsident Kataloniens gefragt, ob er vorbereitet sei, gegebenenfalls 13 Jahre in einem spanischen Gefängnis zu verbringen. Puigdemont antwortet:
"Wenn es keine Alternative gibt, dann habe ich keine Wahl für mein Leben. Aber bis dieser Tag kommt und wenn, werden wir sehr hart kämpfen – unsere Stimmen werden gehört werden in Europa."
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