Streit um russisches Gas – Deutschland droht Niederlage vor Europäischem Gerichtshof

Polen klagte gegen den Betrieb einer Verlängerung der Gas-Pipeline Nord Stream – die EU-Energiesolidarität sei gefährdet. Deutschland droht den Prozess nun zu verlieren. Ist "Energiesolidarität" lediglich ein politischer Begriff oder ein rechtliches Kriterium in der EU?

Im Streit um eine Ausweitung russischer Erdgaslieferungen im Zusammenhang mit der Ostseepipeline Nord Stream droht Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) eine Niederlage. Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona empfahl dem obersten EU-Gericht in einem am Donnerstag veröffentlichten Gutachten, Rechtsmittel Deutschlands gegen einen Beschluss des EU-Gerichts von 2019 zurückzuweisen. EuGH-Gutachten sind nicht bindend, häufig folgen die EU-Richter ihnen aber.

Konkret geht es um Lieferungen durch die Pipeline Opal – eine Verlängerung der seit 2011 betriebenen Ostsee-Pipeline Nord Stream, die russisches Gas nach Europa transportiert. Opal leitet das Gas durch Deutschland weiter nach Tschechien. Zunächst war dem russischen Konzern Gazprom lediglich gestattet worden, die Hälfte der Opal-Leitungskapazität nutzen. Ein Beschluss der EU-Kommission von 2016 erlaubte auf Antrag der Bundesnetzagentur aber eine deutliche Ausweitung der Kapazität für Gazprom.

Im September 2019 hatte Polen in erster Instanz den Beschluss der EU-Kommission stoppen lassen. Polen klagte mit der Begründung, wenn mehr Nord-Stream-Gas nach Mitteleuropa komme, könnte die Lieferung von Gas über die zwei konkurrierenden Pipelines Jamal-Europa und Bratstvo, die russisches Erdgas über Weißrussland und die Ukraine nach Polen transportieren, gedrosselt werden. Laut dem EuGH-Gutachten war dies der Fall. Dies bedrohe die Versorgungssicherheit in Polen und widerspreche dem in der EU geltenden Grundsatz der Solidarität im Energiesektor. Unterstützt wird Polen von Lettland und Litauen.

Deutschland legte gegen das Urteil ein Rechtsmittel ein und machte geltend, "dass die Energiesolidarität lediglich ein politischer Begriff und kein rechtliches Kriterium" sei, "aus dem unmittelbar Rechte und Pflichten für die Union bzw. die Mitgliedsstaaten abgeleitet werden könnten". Energiesolidarität bedeute lediglich "eine Beistandspflicht in Krisensituationen". Zudem habe die EU-Kommission die Energiesolidarität beim Erlass des Beschlusses von 2016 berücksichtigt. Laut Campos Sánchez-Bordona und dem EuGH-Gutachten geht es in der Frage darum,

"ob der Solidarität ein rein symbolischer Wert ohne Gesetzeskraft beizumessen ist oder ob sie den Rang eines Rechtsgrundsatzes besitzt".

Der Generalanwalt tendiert eher zu Letzterem. Er begründet, dass in bestimmten Bereichen, wie etwa "der Einwanderungs-, Asyl- und Grenzkontrollpolitik" der Gerichtshof "den Grundsatz der Solidarität ausdrücklich herangezogen" habe, "als er beispielsweise über die Verteilung der Kontingente von internationalen Schutz beantragenden Personen zwischen den Mitgliedsstaaten habe entscheiden müssen". Nach Ansicht des Generalanwalts spricht nichts dagegen, "den Grundsatz der Solidarität auch im Bereich der Energiepolitik der Union anzuwenden".

"Der Grundsatz der Energiesolidarität verlange […], dass derjenige, der ihn umsetzen müsse – im vorliegenden Fall die Kommission bei der Fassung von Beschlüssen über die Gewährung von Ausnahmen –, die betroffenen Interessen, sowohl die der Mitgliedsstaaten als auch die der Union insgesamt, im Einzelfall abwäge. Würden bei dieser Abwägung einer oder mehrere Mitgliedsstaaten offensichtlich vergessen, entspreche die Entscheidung der Kommission nicht den Anforderungen dieses Grundsatzes."

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(rt/dpa)