Am Dienstag zog der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell vor dem Europäischen Parlament Bilanz seiner Russland-Reise. Schon zuvor war in der Presse viel Kritik an seinem Besuch zu hören. Insbesondere die Ausweisung von drei Diplomaten aus EU-Staaten im Zusammenhang mit den nicht genehmigten Demos in Moskau habe sein Treffen mit dem russischen Außenminister Sergei Lawrow überschattet.
In seiner Eröffnungsrede in Brüssel verteidigte Borrell die Notwendigkeit seiner Reise. Es sei wichtig gewesen, der russischen Regierung zu zeigen, dass die EU angesichts der jüngsten Entwicklungen rund um den Nawalny-Prozess und die Proteste in Russland dies nicht akzeptiert.
"Wir werden die Rechte von Nawalny in Moskau verteidigen. Es war wichtig, das deutlich zu machen", sagte Borrell.
Dennoch fiel die Bilanz seiner Reise ernüchternd aus. Er habe im Vorfeld keine Illusionen gehabt, sei nun aber noch besorgter. "Die russische Regierung geht einen besorgniserregenden autoritären Weg", so Borrell. Der Raum für Zivilgesellschaft und Meinungsfreiheit werde immer kleiner. Für die Entwicklung demokratischer Alternativen scheine es so gut wie keinen Raum zu geben. Der Besuch habe den Trend bestätigt, dass Russland sich von der EU entferne.
Die Schuld an der Verschlechterung der Beziehungen zur EU schob Borrell Russland zu. Russland habe die Erwartungen, dass es sich in Richtung einer Demokratie entwickele, nicht erfüllt. Außerdem versuche Russland immer mehr, seinen Einfluss in der Ukraine, dem Südkaukasus und Transnistrien auszubauen und dort seine Produkte abzusetzen.
Es sei deutlich geworden, dass Russland sich nicht an einem konstruktiven Austausch beteiligen wolle, wenn die EU Menschenrechte und politische Freiheiten anspreche. "Wir sind in den Beziehungen mit Russland an einem Scheideweg", sagte Borrell und stellte die Sanktionsfrage wieder in den Raum.
Es sei Sache der EU-Staaten, über den nächsten Schritt zu entscheiden, sagte Borrell. "Aber ja, dieser könnte Sanktionen einschließen." Er werde das Initiativrecht des Außenbeauftragten nutzen und konkrete Vorschläge vorlegen. Noch vor wenigen Tagen hatte Borrell in Moskau betont, dass bislang kein einziger EU-Staat neue Sanktionen gegen Russland wegen des Falls Nawalny beantragt habe. Die Außenminister der EU-Staaten beraten am 22. Februar über das Thema, im März wollen sich auch die EU-Staats- und Regierungschefs damit beschäftigen.
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Dennoch sprach sich Borrell weiterhin für den Dialog mit Russland aus, "auf Augenhöhe". "Wir müssen einen Modus Vivendi finden und mit der russischen Gesellschaft in Kontakt bleiben." Dann übergab die Sprecherin des Parlaments das Wort den Abgeordneten.
Es traten insgesamt mehrere Dutzend Parlamentarier auf. Die große Mehrheit von ihnen kritisierte die erste Moskau-Reise des Hohen EU-Vertreters seit vier Jahren scharf. Vor allem die Vertreter der sozialdemokratischen Partei PSC, der Europäischen Volkspartei EVP und der Grünen stachen mit antirussischer Rhetorik hervor. "Russland ist der Aggressor auf der Welt, nicht wir", betonte ein Vertreter der EVP-Fraktion.
Die Anwesenden nannten den Borrell-Besuch "eine Blamage" und "Demütigung für die EU". Er sei ein "Geschenk an Putin", wie der spanische Angeordnete Nacho Sánchez sagte. Bei der abschließenden Pressekonferenz habe Moskau Borrell eine Falle gestellt. Damit wurde auf einige unbequeme Fragen russischer Journalisten angespielt, die die Verfolgung ihrer Kollegen in Lettland und das Verbot dreier Fernsehsender in der Ukraine thematisierten. Lawrow wies bei der Konferenz seinen EU-Kollegen publikumswirksam auf Polizeigewalt in den USA und in EU-Staaten hin, nachdem Borrell das Vorgehen der russischen Polizei gegen unangemeldete Proteste verurteilt hatte. Mit seinem Besuch habe Borrell die Glaubwürdigkeit der EU in den Augen der russischen Opposition unterminiert. Ihre Zukunftsperspektiven seien dadurch beschädigt.
Der deutsche Abgeordnete Sergei Lagodinkski von der Fraktion der Grünen forderte, "Schluss mit Putinverstehern in Berlin und Paris" zu machen, und nannte den deutschen Ex-Kanzler Gerhard Schröder als Beispiel. Der Grünen-Politiker rief zu schärferen Sanktionen auf. Ein anderer Abgeordneter verglich Russland mit einem Bären, der "Honig und Stock" brauche. "Wir brauchen eine Strategie, den Bären zu zähmen." Borrell habe nach dem Debakel in Moskau eine gelbe Karte verdient. Einige andere Abgeordnete forderten den Rücktritt Borrells.
Dennoch gab es auch andere Stimmen, die sich gegen diese Rhetorik auflehnten. Der katalanische Politiker Carles Puigdemont wies die Anwesenden darauf hin, dass die Führer der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung im Unterschied zu Nawalny neun Jahre Haft bekamen. Er führte aus:
"Sie, Herr Borrell, hätten Herrn Lawrow sagen sollen, dass er sich geirrt hat. Weil es in Spanien nicht drei politische Gefangene gibt, sondern mindestens neun. Und dass dies nicht mit dem Fall Nawalny verglichen werden kann, weil er zu 3,5 Jahren verurteilt wurde und katalanische Staats- und Regierungschefs wurden zu 9 bis 13 Jahren Haft verurteilt, weil sie ein Referendum abhalten wollten. Wir warnten davor, dass die EU-Doppelmoral das globale Vertrauen in Europa als Verteidiger der Freiheit untergräbt. Sie können nicht um die Welt reisen und andere dazu drängen, Standards anzuwenden, die Sie selbst nicht anwenden."
Ähnlich Kritik übte auch der deutsche Jurist und AfD-Abgeordnete Gunnar Beck. "Was würden die USA mit Edward Snowden tun, hätte er sich nicht rechtzeitig nach Moskau abgesetzt?", fragte er rhetorisch in den Raum. Auch im Rest der EU seien Bilder von Polizeigewalt nicht fremd – man denke an die Gelbwesten.
"Die EU ist nicht die beste aller möglichen Welten. Bestelle deinen eigenen Garten."
Die Debatte um Russland und Nawalny sei typisch für das Europäische Parlament, sagte Beck im Gespräch mit RT DE. "Die überwältigende Mehrheit ereiferte sich in der Kritik, wie ungerecht der Prozess gegen Nawalny und die russische Rechtsstaatlichkeit insgesamt sei. Das war nichts Neues." Rechtliche Mängel bestünden aber vielerorts, auch in der EU.
Der Widerruf einer Bewährungsstrafe – der Grund, aus dem sich Nawalny in Russland derzeit in Haft befindet – sei auch in der EU gang und gäbe. "So was geschieht tausendfach."
"Fast alle meine Kollegen hier in Brüssel sind in keiner besseren Position, das zu beurteilen, besser als ich. Dennoch verurteilen sie hier Russland mit großem Eifer."
Die österreichische Ex-Außenministerin Karin Kneissl wies im Gespräch mit RT DE darauf hin, dass der Besuch Borrells in Moskau mit allen Mitgliedern des EU-Rates koordiniert worden sei und deshalb kein Grund für seinen Rücktritt sein solle. "Das Parlament kann nicht in die Personalbesetzung der Union hineinfunken", sagte Kneissl. Außerdem seien derzeit andere personelle Spannungslinien wichtiger – etwa Ursula von der Leyen betreffend, vor allem in Hinblick auf das Impfprogramm.
Die Ex-Politikerin unterstrich, dass Borrell nicht nur mit Kritik, sondern auch mit einer positiven Agenda nach Russland reiste – nämlich um über die Zusammenarbeit im Bereich der Impfstoffe zu sprechen. Außerdem könnten angesichts der neuen Spannungen die bilateralen Beziehungen der EU-Staaten zu Russland wieder intensiviert werden.
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