Der Weg vom Brexit-Referendum bis zum tatsächlichen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union verlief beileibe nicht reibungslos – er wurde vom Rücktritt nicht nur eines, sondern gleich zweier Tory-Premierminister sowie jahrelanger Verhandlungen mit Brüssel über die weiteren Beziehungen zwischen dem 27-Mitglieder-Block und dem Vereinigten Königreich begleitet.
Trotz mehrerer Fristversäumnisse und Erklärungen von Premierminister Boris Johnson, das Vereinigte Königreich komme auch ohne ein EU-Handelsabkommen erfolgreich aus –, wurde schließlich an Heiligabend 2020 eine Einigung erzielt. Zur Erinnerung: Dies war nur eine Woche vor Ablauf der Übergangszeit.
Ein Rückblick: Der steinige Weg nach dem Referendum
Es ist nun mehr als vier Jahre her, dass 51,89 Prozent der stimmberechtigten Briten für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU stimmten. Das Ergebnis des Referendums machte die Entscheidung rückgängig, die das britische Volk vor 45 Jahren getroffen hatte, als es für den Beitritt zum Gemeinsamen Markt stimmte.
Die jüngste Entscheidung spaltete Familien, politische Parteien und das Land selbst. Im ganzen Land wurde eine Kundgebung nach der anderen abgehalten, während die Politiker über den weiteren Weg zauderten. Der damalige Premierminister David Cameron, der sich für einen Verbleib eingesetzt hatte, trat wenige Stunden nach Feststehen des Ergebnisses der Volksbefragung zurück.
Das Vereinigte Königreich sollte die Europäische Union am 29. März 2019 verlassen, doch Camerons Nachfolgerin, Theresa May, musste mit ansehen, wie ihr Entwurf für ein Brexit-Austrittsgesetz dreimal im Parlament abgelehnt wurde – die erste dieser Niederlagen war die größte in der Geschichte einer amtierenden Regierung.
Johnsons Amtsantritt als Premierminister im Juli 2019 schuf ein Gefühl des erneuten Optimismus, den Brexit abzuschließen, aber auch sein erster Versuch, ein Austrittsgesetz durch das Parlament zu bringen, blieb erfolglos. Das zwang das Vereinigte Königreich erneut dazu, eine Verlängerung der Übergangsfrist zu beantragen.
Schließlich, durch einen erdrutschartigen Wahlsieg im Dezember 2019 beflügelt, ratifizierte das Parlament Johnsons "verbessertes" Austrittsgesetz im Januar 2020. Aber obwohl das Vereinigte Königreich die EU offiziell am 31. Januar 2020 verließ, war der Austrittsprozess noch nicht vorbei. In den folgenden elf Monaten stritten London und Brüssel erbittert über den Handel und ähnliche Elemente ihrer Beziehung nach dem Brexit.
Blick in die Zukunft
Trotz der vielbeschworenen Veränderungen nach dem Brexit wird das Leben für die meisten Briten wahrscheinlich gleich bleiben. Britische Produkte, die in der EU verkauft werden, müssen weiterhin den europäischen Standards entsprechen. Viele Unternehmen werden den EU-Austritt nicht spüren, da der Handel frei von Zollgebühren und Quoten bleiben wird. Doch für andere Unternehmen kann die Einführung von Zoll- und Behördenkontrollen ernsthafte Störungen im Betriebsablauf und Ärger bedeuten.
Die Reisefreiheit – möglicherweise die wichtigste Überlegung für viele Briten, die gegen den Austritt aus der EU stimmten – geht zu Ende. Stattdessen werden die Briten nun ein Visum benötigen, um in einem EU-Land zu arbeiten, zu studieren oder sich dort länger als 90 Tage innerhalb eines Zeitraums von 180 Tagen aufzuhalten. Das Vereinigte Königreich wird seinerseits ähnliche Regelungen für die EU-Mitgliedsländer (mit Ausnahme derer in der Republik Irland) und auf einem Punktesystem basierende Einwanderungsregelungen einführen.
Das Auto bis zum Rand mit französischem Wein zu beladen, wird der Vergangenheit angehören: Neue Zollgesetze werden in Kraft treten, die die steuerfreien Einfuhrmengen für Einzelpersonen auf 42 Liter Bier, 18 Liter Wein, vier Liter Spirituosen und 200 Zigaretten beschränken werden. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass die neue Einfuhreinschränkung zum Beispiel der viel gepriesenen "aufstrebenden Weinindustrie Englands" einen großen Schub geben wird.
Die britische Polizei wird ihrerseits den Sofortzugang zu den EU-Datenbanken über Strafregister, Fingerabdrücke und gesuchte Personen verlieren. Nordirland wird sich, anders als der Rest Großbritanniens, weiterhin an viele Regeln und Vorschriften der EU halten müssen – die entsprechenden Entscheidungen traf man, um eine Rückkehr der Region zu einer "harten Grenze" mit der benachbarten Republik Irland zu verhindern.
In der Zwischenzeit brachten Unternehmer der Fischereiindustrie ihren Unmut darüber zum Ausdruck, dass Johnson sie im Stich gelassen habe: Fischfangschiffe unter Flaggen der EU-Länder behalten weiterhin Zugang zu britischen Gewässern. Lediglich schrittweise werden in den nächsten fünfeinhalb Jahren Fangquoten der britischen Fischer erhöht und der Zugang der EU-Fischer entsprechend reduziert; nach Ablauf dieser Frist werden die EU-Quoten jährlich neu verhandelt.
Britische Studenten werden ihrerseits den Zugang zum Erasmus-Programm verlieren – der EU-Initiative zur Unterstützung und Finanzierung von Bildung und Ausbildung im europäischen Ausland. Johnson versprach, das Programm durch ein anderes, globales Programm zu ersetzen, das nach dem Mathematiker Alan Turing benannt ist; ferner hieß es aus der Republik Irland, man werde die Nutzung des Erasmus-Programms durch Studenten in Nordirland weiterhin finanzieren.
Auf politischer Ebene wird es zweifellos nicht ein und nicht zweimal zu Streitigkeiten kommen. Deshalb einigten sich beide Parteien auf ein Schiedsgericht, das bei der Beilegung von Handelsstreitigkeiten helfen und eine Entschädigung ermöglichen soll, falls die Maßnahmen des Gremiums später als überzogen oder ungerecht empfunden werden.
Obwohl das Abkommen zwischen der EU und Großbritannien eine Vielzahl von Kernelementen und wichtigen Details enthält, bleibt abzuwarten, wie sich die Feinheiten und die verschiedenen konkurrierenden Interessen in der Zeit nach dem Brexit entwickeln werden.
Der zweite Versuch – nach Brexit der Schexit?
Kaum trat der Brexit in Mitternacht vom 31. Dezember auf den 01. Januar in Kraft, war die Erste Ministerin Schottlands in Minutenschnelle mit folgendem an die Europäische Union adressierten Tweet bei der Hand:
"Schottland kommt bald wieder, Europa. Lasst das Lichtlein brennen."
Nicola Sturgeon übernahm die Führung der Scottish National Party (SNP), nachdem das erste schottische Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2014 gescheitert war. Damals stimmten nur 45 Prozent der Schotten für den Austritt aus dem Vereinigten Königreich und 55 Prozent für den Verbleib. Dies lag mit Sicherheit zum Teil an den Warnungen aus Brüssel, dass ein unabhängiges Schottland nicht automatisch EU-Mitglied werden würde – und den Beitritt von Grund auf neu aushandeln müsste.
Für einen Rückaustritt in die EU
Dieses Verhältnis hat sich nun laut jüngsten Umfragen umgekehrt: Eine Umfrage von Ipsos MORI im Oktober zeigte, dass die Unterstützung für die schottische Unabhängigkeit bei 58 Prozent lag – dies wäre ein Allzeithoch. Andere Umfragen zeigen, dass die Unterstützung für eine Abspaltung von Großbritannien irgendwo zwischen 51 und 59 Prozent liegen soll.
Für das Wachstum der separatistischen Launen in Schottland wird sowohl der Umgang des britischen Premierministers Boris Johnson mit der COVID-19-Pandemie als auch die komplizierten Brexit-Verhandlungen verantwortlich gemacht. Nicht ausgeschlossen ferner, dass der beschlossene (und nun auch eingetretene) Brexit als solcher sich dergestalt auf die Launen der Schotten auswirkt: Während in England und Wales eine Mehrheit für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU stimmte, war in Schottland das Gegenteil der Fall – 62 Prozent waren für den Weiterverbleib und 38 für den Austritt.
Was auch immer hier den Ausschlag gegeben haben mag: Sturgeon war schnell bei der Hand, diese Launen zu unterstützen. Schon im November erklärte sie gegenüber der BBC, dass sie eine neue Volksabstimmung abhalten möchte, sobald die nächsten Wahlen ins schottische Parlament im Mai abgeschlossen sind. Die SNP ist bei diesen Wahlen aktuell ein klarer Favorit. Von den möglichen Argumenten für einen Schexit scheint Sturgeon selbst momentan die Reaktion der britischen Regierung auf die Pandemie das wichtigste zu sein. Auf der SNP-Jahreskonferenz Mitte Dezember sagte die Erste Ministerin:
"Wen wollen wir bei der Gestaltung der Zukunft Schottlands am Steuer haben? Die schottische Regierung hat nicht alles richtig gemacht – weit gefehlt. Aber ich bezweifle, dass sich in Schottland viele Menschen gewünscht hätten, dass Westminster mehr Verantwortung für unsere Reaktion auf die Pandemie übernehmen würde."
Sie fügte hinzu, dass sie "nie so sicher" gewesen sei, dass Schottland ein unabhängiges Land werde. Der jetzige britische Premier Boris Johnson erklärte, dass das erfolglose schottische Unabhängigkeitsreferendum im Jahr 2014 ein Generationenereignis gewesen sei und sein Ergebnis respektiert werden solle. Schottland und England sind seit dem Jahr 1603 unter der gleichen Krone und seit Gründung des Königreichs Großbritannien im Jahr 1707 auch in einer formellen Staatsunion.
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