Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bezeichnete die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs zum inhaftierten kurdischen Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş als "scheinheilig" und "politisch motiviert".
Dass das Gericht die Freilassung einer Person anordne, die eine "Terrororganisation" unterstütze, sei "Doppelmoral und Scheinheiligkeit", sagte Erdoğan am Mittwoch in Ankara vor den Anhängern seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP. Das Gericht stelle sich damit hinter einen "Terroristen". Erdoğan fügte hinzu, dass nicht alle rechtlichen Wege innerhalb des Landes ausgeschöpft worden seien. Erst wenn dies der Fall sei, könne der Europäische Gerichtshof eingreifen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte am Dienstag die sofortige Freilassung des kurdischen Politikers Selahattin Demirtaş gefordert.
Selahattin Demirtaş war am 3. November 2016, zu jener Zeit noch Ko-Vorsitzender der HDP, mit der Ko-Vorsitzenden Figen Yüksekdağ und weiteren HDP-Abgeordneten festgenommen worden. Ihnen wird auf Initiative der Erdoğan-Regierung "Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation (PKK)" vorgeworfen. Im selben Jahr war auch seine Immunität als Abgeordneter aufgehoben worden.
Gegen den Politiker laufen zahlreiche Prozesse. Im Hauptverfahren ist Demirtaş unter anderem wegen der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation angeklagt.
Hintergrund der Anschuldigungen sind unter anderem Proteste in der Türkei im Jahr 2014, zu denen die HDP aufgerufen hatte. Sie richteten sich gegen die Belagerung der syrisch-kurdischen Stadt Kobane durch die Terrormiliz IS. Die Proteste schlugen in Gewalt um. Nach offiziellen Angaben wurden 37 Menschen getötet. Erdoğan hält die legale Partei HDP für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die HDP weist das zurück.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ein vorher gefälltes Urteil aufrechterhalten. Die Rechte von Demirtaş, einschließlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung und das Recht auf Freiheit und Sicherheit, seien verletzt worden, so das Gericht.
Inzwischen liegt ein neuer Haftbefehl gegen Demirtaş im Zusammenhang mit den Protesten vor. Der EGMR hatte am Dienstag erklärt, eine Fortsetzung der Untersuchungshaft in demselben Kontext würde eine Verlängerung der Verletzung von seinen Rechten darstellen. Deshalb müsse Ankara alle nötigen Maßnahmen ergreifen, um Demirtaş freizulassen. Die Türkei als Mitglied des Europarats muss die Urteile des EGMR umsetzen.
Eine Nichtbeachtung des Urteils könnte die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei weiter anheizen, die wegen der Erdgaserkundungen der Türkei im östlichen Mittelmeer ohnehin angespannt sind.
Das Urteil ist bindend, aber die Türkei hatte auch frühere Urteile des Gerichts nicht erfüllt. Heute Morgen signalisierte Erdoğan, dass dies erneut passieren würde.
"Wir müssen nicht so viele Doppelstandards und Scheinheiligkeit tolerieren," so Erdoğan.
Das Gericht verurteilte die Türkei darüber hinaus zu einer Zahlung von 60.400 Euro an Demirtaş.
Nach Bloomberg soll das EGMR nach diesem Urteil Ziel eines Cyberangriffs gewesen sein.
Demirtaş: Gefährlicher politischer Gegner für Erdoğan
Mit Demirtaş als Ko-Vorsitzendem hatte die HDP in der Parlamentswahl Mitte 2015 80 Sitze gewonnen, sodass die regierende AKP von Präsident Erdoğan zum ersten Mal seit –zu jenem Zeitpunkt – 13 Jahren die absolute Mehrheit verloren hatte. Erst bei Neuwahlen im November desselben Jahres, die nicht nur nach den Beobachtungen der OSZE und des Europarats als unfair gelten, errang die AKP wieder die absolute Mehrheit.
Das Jahr darauf begann der politische und juristische Angriff auf die HDP: die Immunität vieler HDP-Abgeordneten wurde aufgeboben, führende HDP-Politikerinnen und Politiker wurden verhaftet. Heute noch werden gewählte Bürgermeister der HDP in den kurdischen Provinzen durch die Regierung abgesetzt und durch von der Regierung beauftragte Treuhänder ersetzt.
Gemeinsam mit Figen Yüksekdağ, der zweiten Ko-Vorsitzenden der HDP, wurde Demirtaş angeklagt, die Menschen zum Protest gegen die Türkei, die den IS-Angriff auf die nordsyrische kurdische Enklave Kobane 2014 stoppen konnte bzw. wollte, aufgehetzt zu haben. Mindestens 37 Menschen verloren während dieser Demonstrationen ihr Leben.
Demirtaş weist die Anklage zurück.
Roth: Erfüllung der EGMR-Urteile kein Akt des Wohlwollens
Die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe, Bärbel Kofler, schrieb auf Twitter:
"Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bestätigt, dass die Verhaftung von Selahattin Demirtaş politische Beweggründe hat. Die Message des Gerichts ist klar: Er muss freigelassen werden! Ich rufe die türkische Justiz auf, alle Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte so schnell wie möglich zu verwirklichen."
Der Staatsminister für Europa beim Bundesminister des Auswärtigen Amts, Michael Roth, erklärte bei der Deutschen Welle :
"Wir beobachten mit großer Sorge, dass die Türkei sich nicht an die Entscheidungen des EGMR hält. Aber das ist eine Vorbedingung der Mitgliedschaft im Europarat."
Mit der Mitgliedschaft im Europarat ist die Türkei vor Jahren in Sachen Menschenrechte und Rechtsstaat manche Verpflichtungen eingegangen. Den EGMR-Entscheidungen nachzukommen sei kein Akt des Wohlwollens, sondern eine Verpflichtung.
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