Istanbul-Konvention zu Frauenrechten: Türkei denkt über Abkehr von Ratifizierung nach

Die religiöse Rechte in der Türkei sieht das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen – besser bekannt als Istanbul-Konvention – als westliches Konstrukt zur Zerstörung der moralischen Werte.

Nur fünf Jahre nach ihrem Inkrafttreten am 1. August 2014 wird das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, kurz Istanbul-Konvention genannt, von konservativen bis rechten Regierungen Europas in Frage gestellt – auch von der Türkei, der Gastgeberin der Konferenz, von der die Konvention ihren Namen erhalten hat. Die Türkei hatte die Europaratskonvention, die sich die Gewalt gegen Frauen zu verhindern und zu bestrafen zum Ziel gesetzt hat, bereits 2012 ratifiziert. Die regierende AKP erwägt inzwischen, sich von dem Übereinkommen zurückzuziehen.

2019 wurden in der Türkei 474 Frauenmorde verzeichnet, das sind doppelt so viele ermordete Frauen wie im Jahr der Ausarbeitung der Konvention 2011. Allein seit Anfang 2020 wurden dem Internetportal Diken zufolge gemäß den Angaben des Innenministeriums 142 Frauen umgebracht. Die Organisation "Wir werden Frauenmorde stoppen!" andererseits nennt bereits eine Anzahl von 182. Die Frauen werden von ihren Ehemännern, ihren Partnern oder einem nahen Verwandten ermordet, unzählige Fälle häuslicher Gewalt werden von den Frauenorganisationen des Landes registriert.

Es melden sich hierzu ausschließlich Männer aus Politik und Prominenz aus dem religiös-konservativen bis religiös-fundamentalistischen, rechten bis rechtsextremen Spektrum negativ zu Wort.

Der Hauptkritikpunkt der Gegner der Istanbul-Konvention: Sie zerstöre die Familienstrukturen. Der landesweit für seine islamistische Haltung bekannte Theologe Ali Rıza Demircan (er hatte 2016 in einer Fernsehsendung erklärt, nach dem traditionellen islamischen Recht könnten alle Taten des IS legitimiert werden) setzte in einem Interview mit der AKP-nahen Zeitung Milat gleich am Laizismus-Prinzip der Republik an. Es habe keinen Sinn, gegen die Istanbul-Konvention zu sein, solange der "unterdrückerische und diskriminierende Laizismus" herrsche.

Die Istanbul-Konvention sei ein Produkt des Westens; im Westen sei die Familie bereits zerstört. Die Konvention unterstütze eine "tierähnliche Existenz". Sie sehe alles (religiös, d. Red.) Verbotene und Schädliche als natürlich an, wie z.B. außereheliche Beziehungen, Nacktheit, Homosexualität, die Vermarktung des weiblichen Körpers, Alkoholgenuss und Sodomie. Die Konvention biete "absolut keine geistlichen Sanktionen zur Verhinderung von Gewalt", sie selbst sei eher Ursache von Gewalt. Demircan ist der Vater des Kultur- und Tourismusministers Ahmet Misbah Demircan.

Eine mögliche Aufkündigung der Konvention werten viele als Geste Erdoğans an seine religiös-konservative Anhängerschaft. In Zeiten sinkender Umfragewerte versuche der Präsident so, seine Wähler zurückzugewinnen.

Doch die Fronten zwischen Befürwortern und Kritikern verlaufen teilweise auch durch das Pro-Erdoğan-Lager. Nachdem etwa der Sprecher der Plattform Unterstützerinnen der Konvention als "Schlampen" bezeichnet hatte, verteidigte die konservative Frauenrechtsorganisation KADEM das Abkommen. In deren Vorstand sitzt Sümeyye Erdoğan Bayraktar, eine Tochter des türkischen Präsidenten.

46 Länder unterzeichneten die Konvention, 33 von ihnen ratifizierten sie bereits, darunter auch Deutschland. 

Wie die Türkei will auch Polen alles rückgängig machen. Die polnische Regierung will die Istanbul-Konvention auf Konformität mit der Verfassung überprüfen. Zur Zerstörung der Familie kommt hier als Einwand hinzu, durch die Konvention werde das biologische Geschlecht durch die soziokulturelle Gender-Wahrnehmung manipuliert. Die Konvention sei ein Machwerk "linker Feministinnen". 

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