Ungeachtet westlicher Mahnungen und den Kriegsdrohungen Ankaras und unbeirrt von der massiven militärischen Unterstützung islamistischer Terrorgruppen durch die Türkei setzt die syrische Armee ihre Offensive in der nordwestlichen Provinz Idlib fort.
Die syrische Nachrichtenagentur SANA zitiert aus einer Erklärung des Generalkommandos der Armee vom Dienstag, wonach die türkischen Angriffe auf Stellungen der syrischen Armee diese nicht davon abhalten werden, "ihre Operationen in der Provinz Idlib und im Westen von Aleppo fortzusetzen, um die Region von Terrorismus in allen seinen Formen zu befreien und Sicherheit und Stabilität in allen Gebieten Syriens wiederherzustellen".
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Die Provinz Idlib und ihre gleichnamige Hauptstadt werden größtenteils von der islamistischen Hai'at Tahrir asch-Scham (HTS, ehemals al-Nusra-Front) kontrolliert. Der syrische Al-Qaida-Ableger wird international mehrheitlich als Terrororganisation eingestuft, darunter auch von Russland und den USA. Die an die Türkei grenzende Provinz ist die letzte Bastion islamistischer Aufständischer in Syrien.
Nach großen Geländegewinnen in den vorangegangenen Tagen gelang der syrischen Armee am Dienstag die Einnahme von al-Rashidin 4, einem Außenbezirk von Aleppo. HTS-Terroristen nutzten den Ort für Raketenangriffe auf Wohngebiete der Wirtschaftsmetropole. Kurz darauf rückte die Armee dann in die westlich angrenzende Ortschaft Khan al-Assal ein. Durch die Einnahme der Ortschaften konnte die Armee nun auch den westlichen Abschnitt der M5-Schnellstraße unter Kontrolle bringen, der Damaskus mit Aleppo verbindet. Zum ersten Mal seit dem Jahr 2012 ist die wichtige Schnellstraße wieder vollständig in den Händen der Regierungstruppen.
Khan al-Assal: Der erste Sarin-Einsatz und ein Massaker an syrischen Soldaten
Über den strategischen Wert hinaus kommt Khan al-Assal auch eine wichtige symbolische Bedeutung zu. Dort wurde am 19. März 2013 erstmals während des Syrien-Kriegs die Chemiewaffe Sarin eingesetzt. Durch das Nervengift starben nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte 16 syrische Soldaten, die den Ort damals noch kontrollierten, sowie zehn Zivilisten. Über 80 weitere Menschen wurden demnach verletzt.
Laut der Analyse eines OPCW-zertifizierten russischen Labors wurde bei dem mit einer Rakete erfolgten Angriff eine nicht-industriell hergestellte Sarin-Variante eingesetzt. Carla Del Ponte, damalige UN-Sonderermittlerin in Syrien, erklärte dazu:
Wir haben Zeugenaussagen von Ärzten, Flüchtlingen in benachbarten Ländern und Spitalmitarbeitern, dass chemische Waffen verwendet wurden – nicht von der Regierung, aber von der Opposition", so die ehemalige Chefanklägerin beim Internationalen Strafgerichtshof für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien gegenüber dem Tessiner Fernsehsender RSI.
Auch der Schweizer Arzt Franco Cavalli bestätigte: "Der einzige gesicherte Fall von Giftgaseinsatz in Syrien (Khan al-Assal) wurde eindeutig den Dschihadisten zugeschrieben."
Die USA und die "Rebellen" machten jedoch das syrische Militär für den Angriff auf sich selbst verantwortlich. Die syrische Regierung forderte daraufhin eine Untersuchung der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW). Nach langem Hin und Her bezüglich der konkreten Umsetzung des Vorhabens trafen am 18. August 2013 schließlich Inspektoren der OPCW in Damaskus ein, um den Giftgaseinsatz in Khan al-Assal zu untersuchen.
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Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Denn wenige Wochen zuvor hatte die al-Nusra-Front den Ort nach heftigen Kämpfen erobert. Der Al-Qaida-Ableger massakrierte anschließend über 50 gefangen genommene syrische Soldaten, wie die New York Times am 26. Juli berichtete. Warum die Einnahme Khan al-Assals für die Terroristen so wichtig war, liegt auf der Hand: Die OPCW-Untersuchung wurde dadurch verhindert.
Zweiter Sarin-Angriff: Auf Khan al-Assal folgte Ost-Ghuta
Der Giftgasangriff in Khan al-Assal wurde zudem überschattet von einem weiteren Chemiewaffenangriff, der weitaus mehr Menschenleben kostete: Drei Tage nach Eintreffen der OPCW-Inspektoren starben im Damaszener Vorort Ost-Ghuta hunderte Menschen durch eine ebenfalls mit Sarin ausgeführte Attacke.
Der Westen machte dafür sofort die syrische Regierung verantwortlich. Wahrscheinlicher ist jedoch eine Täterschaft der al-Nusra-Terroristen, die mit der Tat eine militärische Intervention der USA zum Sturz des Präsidenten Baschar al-Assad provozieren wollten, nachdem der damalige US-Präsident Barack Obama die berühmt-berüchtigte "rote Linie" gezogen hatte, sollte die syrische Armee Chemiewaffen einsetzen.
Dieser Ansicht sind zumindest hochrangige US-Militär- und Geheimdienstveteranen, darunter der ehemalige CIA-Spezialist für Terrorismusbekämpfung Philip Giraldi oder der ehemalige leitende NSA-Angestellte Thomas Drake.
Auch der renommierte Enthüllungsjournalist Seymour Hersh vermutet die islamistischen Aufständischen hinter dem Verbrechen. Im Dezember 2013 legte er offen, dass US-Geheimdienste davon wussten, dass die al-Nusra-Front "in der Lage war, Sarin herzustellen und in großen Mengen zu produzieren". Laut Hersh habe Obama trotz des Überschreitens der "roten Linie" von militärischen Vergeltungsschlägen schlussendlich abgesehen, da die von den US-Diensten zusammengetragenen Information eher für eine Täterschaft der al-Nusra-Front sprachen. So sei beispielsweise das in Ghuta freigesetzte Sarin nicht mit jenem aus den syrischen Armeebeständen identisch gewesen.
Eine detaillierte Analyse des Massachusetts Institute of Technology (MIT) wies die These von der Täterschaft der syrischen Armee ebenfalls zurück. Türkische Abgeordnete der Republikanischen Volkspartei (CHP) haben zudem laut eigenen Angaben Beweise dafür gesammelt, dass Sarin kurz vor dem Giftgasangriff in Ghuta mithilfe des türkischen Geheimdienstes an Terroristen in Syrien geliefert wurde.
Bereits im Mai 2013 wurden zwölf Mitglieder der al-Nusra-Front im türkischen Adana und Mersin verhaftet, nachdem in einer von ihnen benutzten Wohnung ein zwei Kilo schwerer Zylinder mit Sarin entdeckt worden war. Fünf der Festgenommenen wurden später freigelassen und setzten sich nach Syrien ab.
Mögen sich die Hintergründe und Täter des verheerenden Chemiewaffenangriffs in Ost-Ghuta und eine eventuelle Verwicklung türkischer Dienste möglicherweise auch nie restlos aufklären lassen, so hat das türkische Militär in den letzten Tagen in Idlib unter Beweis gestellt, dass es keine Skrupel hat, de facto als Schutzmacht Al-Qaidas zu agieren.
Was übrigens eine Art Gegenleistung darstellt: Im Rahmen des mit Russland vereinbarten Memorandums von Sotschi errichtete das türkische Militär ein Dutzend Beobachtungsposten in Idlib zur Überwachung einer Feuerpause. "Als die Türkei im Oktober letzten Jahres mit der Einrichtung des ersten Postens begann, war es die HTS, die für die Sicherheit [der Beobachtungsposten] sorgte, bis der Prozess im Mai dieses Jahres abgeschlossen war", berichtete Al Jazeera im September 2018.
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