Russische Nahostexpertin zu Perspektiven in der Region: US-Truppen für den Irak nicht mehr tragbar

Qassem Soleimani war der bei den Iranern mit Abstand populärste Politiker, sagt die russische Iran-Expertin Marianna Bakonina. Die besonnene Antwort des Iran auf dessen Ermordung erfolgte im Sinne seiner Politik. Die USA müssten dagegen mit Konsequenzen rechnen.

Marianna Bakonina ist russische Fernsehjournalistin und Nahostexperin. Als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Iranistik des Russischen Instituts für Strategische Studien (RISI) ist sie derzeit gefragte Kommentatorin für die Lage um den Iran. RT Deutsch besprach mit ihr die Folgen der gegenseitigen militärischen Schläge der USA und des Iran. 

Der Schlag der USA erfolgte ohne Vorwarnung und war mit zehn Toten durchaus blutig. Die Iraner haben die Iraker und damit auch die US-Amerikaner gewarnt, und es gab keine Toten und Verletzten. Warum reden die Iraner von einer angemessenen Antwort?

Der Iran betrachtet dies als proportionale und würdige Antwort, und zwar aus mehreren Gründen. Vor allem Qassem Soleimani wäre mit solch einer Antwort zufrieden gewesen, weil er Verfechter einer sanften Macht (Soft Power) war. Man muss wissen, unter welchen Umständen die al-Quds-Einheit, die er leitete, ins Leben gerufen wurde. Erinnern wir uns an das Massaker der Taliban im Jahre 1998 in Masar-e Scharif, als die Taliban das gesamte iranische Konsulat und einige Journalisten massakrierten (bei diesem Massaker im September 1998 sind insgesamt elf Menschen ums Leben gekommen – Anm. d. Red.). Die Wut im Iran war enorm, die iranischen Streitkräfte, darunter die al-Quds-Einheit, standen an der Grenze zu Afghanistan und standen kurz davor, dort einzumarschieren. Soleimani hat Ali Chamenei damals davon überzeugt, dass man lieber asymmetrisch und mithilfe von Soft Power antworten sollte. Die al-Quds-Einheit war gerade damit beschäftigt, im Nahen und Mittleren Osten für den Iran Verbündete zu gewinnen. Das war im Libanon, in Afganistan, in Palästina, im Irak und im Jemen zu verschiedenen Zeiten der Fall – die Iraner gewannen Verbündete. Das liegt in ihrem Interesse.

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Warum ist dieser Schlag der Iraner jetzt in Wirklichkeit ein beeindruckender gewesen, obwohl kein Blut vergossen wurde? Die Iraner, die die Situation in der Region viel besser kennen als die US-Amerikaner, haben gezeigt, dass diese Ziele für sie gut erreichbar sind. Zum Beispiel ist die Al Asad Airbase in der Nähe von Bagdad jene, die Donald Trump überraschend besucht hat, als er den damaligen irakischen Premierminister ohne Vorankündigung gerufen hat. Der Iran hat damit einerseits gezeigt, wozu er fähig ist. Andererseits wäre Trump zu einem harten Vorgehen gezwungen gewesen, wenn US-Bürger dabei ums Leben gekommen wären. Die Iraner haben ihn von dieser "Pflicht" entbunden und damit dazu gezwungen, einen Schritt zurückzugehen, um einen Krieg zu vermeiden.

Kann man die Unterstützung der libanesischen Hisbollah auch Soft Power nennen?

Ja, natürlich. Man muss einfach bedenken, dass Teile des Libanon bis heute besetzt sind. Wissen Sie, wann Israel seine Streitkräfte von libanesischem Territorium abgezogen hat? Im Jahr 2000. Sie waren seit 1978 dort. Und bis heute sind die Schebaa-Farmen besetzt, die die Libanesen für ihr Territorium halten. Sie kennen bestimmt den israelischen Standpunkt, dass die Hisbollah eine terroristische Organisation ist. Der militante Flügel der Hisbollah hält sich aber für Widerstandskämpfer. Sie agieren nur auf dem Territorium, das Israel okkupiert hat, und zwar gegen militärische Ziele.

Die Resolution des irakischen Parlaments über den Abzug der ausländischen Truppen ist eine Deklaration, die für die Regierung nicht bindend ist …

Warum? Der Irak ist eine parlamentarische Republik. Der amtierende Premierminister Adil Abd al-Mahdi selbst tritt für den Abzug der US-Truppen ein. Diese Frage stellt man sich im Irak schon seit Langem. Das hat wiederum mit unüberlegten und unvorsichtigen Handlungen der Trump-Administration zu tun. Zum Beispiel, als die US-Amerikaner angekündigt haben – und das war schon zu der Zeit, als Mike Pompeo der Außenminister war –, dass sie den Iran von den Stützpunkten auf irakischem Territorium aus überwachen werden. Die Iraker können sich keinen Konflikt mit einem so starken Nachbarn wie dem Iran leisten. Außerdem hat der Iran den Irakern sehr im Kampf gegen den IS geholfen. Soleimani, der von den US-Amerikanern getötet wurde, hat eine Schlüsselrolle bei der Formierung der Volksmobilisierungskräfte und damit auch bei der Zerschlagung des Islamischen Staates gespielt. Sie wissen, dass der IS sich zunächst auf irakischem Territorium ausbreitete, und die irakische Staatlichkeit war damals extrem gefährdet. In den USA hat man sogar schon Karten mit einem zerfallenen Irak produziert. Dass der Irak als einheitlicher Staat erhalten geblieben ist, ist im Wesentlichen dem Iran zu verdanken. Der Irak hat eine 1.000 Kilometer lange gemeinsame Grenze mit dem Iran. Der Irak kann es sich nicht erlauben, den Iran zum Feind zu haben, wie es zu Zeiten Saddam Husseins der Fall war.

Trotzdem, wie realistisch ist das Abzugsszenario? Der Abzug würde für die US-Amerikaner einen Gesichtsverlust bedeuten.

Warum nicht? Trump hat selbst schon früher gesagt, dass man die Truppen abziehen müsse. Bei seinem letzten Presseauftritt hat er dies bestätigt. Dabei sprach er wieder von Geld, was für Menschen im Nahen Osten überhaupt nicht verständlich ist. Ob nun früher oder später – sie werden gehen. Nicht sofort, aber es wird passieren, wie es auch anderorts schon passiert ist.

Trump sah bei dieser Presseerklärung ziemlich angeschlagen und unsicher aus – was für ihn ungewöhnlich ist. Ist dies ein Zeichen seiner Niederlage?

Trump pflegt auch als Präsident eine geschäftliche Herangehensweise. Zunächst anrennen, dann zwei Schritte zurückgehen, und dann wieder anrennen. Aber in der Politik, insbesondere in der Politik im Nahen Osten, funktioniert dieser Ansatz nicht. Auf die auf Trumps Pressekonferenz erneut ausgesprochene Behauptung, die USA verfügen über die am besten ausgerüstete Armee der Welt, erwiderte der iranische Außenminister Mohammed Dschawad Sarif, die Welt werde nicht von Armeen regiert, sondern von Menschen, und die Menschen im Nahen Osten seien der Präsenz der USA überdrüssig.

Trump konnte nicht weiter vorstoßen. Dazu ist er nicht bereit, denn das würde Krieg bedeuten. Dementsprechend müsste er ein Stück zurücktreten, und die Iraner haben ihm diese Möglichkeit gegeben, indem sie einen einerseits zerstörerischen und andererseits unblutigen Gegenschlag durchgeführt haben.   

Werden die Regierungen in den westlichen Staaten das verstehen? Sie setzen derzeit im Einklang mit den USA auf die Dämonisierung des Iran. Der ermordete General Soleimani sei ein Topterrorost gewesen, hieß es neulich, und der Schlag sei im Grunde gerechtfertigt. Solche Stimmen sind auch in der Bundesrepublik zu hören.

Das ist sehr schade, denn beim nächsten Mal könnte jemand von ihnen zum Terroristen erklärt werden.

Die Position Russlands zum Anschlag auf Soleimani und seine Begleiter ist nicht ganz eindeutig. Er wurde nicht verurteilt.

Die russische Regierung hat diesen Akt als abenteuerlich bezeichnet, und er ist abenteuerlich. Ganz abgesehen davon, dass er im Iran mit großer Trauer und überall in der muslimischen Welt mit großer Bestürzung aufgenommen wurde – von Malaysia bis Kaschmir, in der Türkei usw. Er wird das künftige Verhalten des Iran in der Region kaum beeinflussen, denn anstelle Soleimanis hat das Amt nun sein engster Freund und langjähriger Gefährte seit 1980 Esmail Ghaani inne. Er verfügt über die gleichen Kontakten in der Region wie sein Vorgänger. Vertreter der von mir zuvor genannten Staaten reisten schon in den Iran, um diese Kontakte nun mit ihm auf neue Weise zu knüpfen. Der Schritt der Amerikaner ist sinnlos und stellt einen gefährlichen Präzedenzfall dar.

Die Büchse der Pandora haben die US-Amerikaner – übrigens ebenfalls unter Donald Trump – geöffnet, als sie im April 2019 die Iranischen Revolutionssgarde (Armee der Wächter der Islamischen Revolution oder Pasdaran) als Terrororganisation eingestuft haben. Das ist eigentlich die Armee eines souveränen Staates, eines UN-Mitgliedes. Ja, die Armee führt Militäraktionen aus, bewacht die Grenzen, speziell im Iran bekämpft sie den Drogenschmuggel. Wenn wir diesen Weg einschlagen, dann führt er ins Nichts. Nun haben die Iraner das Pentagon als Terrororganisation eingestuft. Übrigens versteht das amerikanische Militär, das in der Region präsent ist, die Absurdität dieser ganzen Situation. Als die Revolutionsgarde zur terroristischen Organisation erklärt wurde, hat das CENTCOM (Zentralkommando der Vereinigten Staaten – Anm. d. Red.) im Nahen Osten auf seinem Twitter-Account auf Farsi geschrieben, dass der Algorithmus unserer Begegnungen mit der Revolutionsgarde auch nach dieser Entscheidung nicht geändert werde. Sie verstehen, dass dieser Weg ins Nichts führt, im Unterscheid zu den Leuten im Weißen Haus.

Hat Russland den USA die Verletzung des Völkerrechts vorgeworfen?

Ja, im Gespräch mit dem US-amerikanischen Außenminister Mike Pompeo hat der russische Außenminister Sergei Lawrow den USA die grobe Verletzung des internationalen Rechts vorgeworfen. Auch von anderen russischen Amtsträgern war viel Kritik zu hören. Die Washington Post hat am 6. Januar geschrieben, dass Russland außer dem Iran den Befehl des US-Präsidenten Donald Trump, Qassem Soleimani zu ermorden, am lautesten kritisiert hat. So wurde die russische Position in den USA wahrgenommen.

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Soleimani genoss im Iran sehr hohes Ansehen. Was bedeutet seine Tötung für die Menschen im Iran? Wird sie die iranische Politik im Nahen Osten irgendwie beeinflussen?

Er war in der Tat außerordentlich populär im Iran, der populärste Politiker und Staatmann überhaupt. Selbst laut US-amerikanischen Umfragen, die die Universität von Maryland durchgeführt hat, überstieg seine Popularitätsrate 80 Prozent, wobei er auch denjenigen gefiel, die in Opposition zum Regime stehen. Sogar unter den Exiliranern mit US-Pässen war er populär. Er ist im wahrsten Sinne des Wortes der Sohn der Islamischen Revolution, er stammt aus den einfachsten Verhältnissen, musste mit 13 Jahren schon sein Dorf verlassen, um zu arbeiten, und er erreichte die höchsten Positionen im Staate. Ihm wurde als Einzigem nach der Revolution der Zolfaghar-Orden verliehen, die höchste militärische Auszeichnung des kaiserlichen Iran, gerade erst vor einem halben Jahr. Seine Personlichekeit ist einmalig. Aber das bedeutet nicht, dass der Iran durch sein Ableben geschwächt wird. Er wurde zu Lebzeiten "lebender Schachid (Märtyrer)" genannt. Nun ist er ein toter Märtyrer. Er wird eine Ikone, ein Vorbild sein.

Sein Nachfolger ist zwar weniger charismatisch, verfügt aber über genug Talent, dieses Amt vor allem in Hinblick auf Verhandlungsgeschick gut auszufüllen. Die iranische Politik wird durch seinen Tod nicht geändert. Der Iran verfügt über eine durchdachte Strategie im Nahen und Mittleren Osten, und er wird auch weiterhin daran arbeiten, um sich herum einen Ring aus Verbündeten zu schaffen. Man kann hier noch einmal Außenminister Sarif zitieren, als er im letzten Herbst vor dem Madschles (dem iranischen Parlament – Anm. d. Red.) berichtete, der Iran habe jetzt gute Beziehungen zu seinen Nachbarn, zu denen sie früher angespannt waren – zu Afghanistan, Pakistan, dem Irak.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte RT-Deutsch-Redakteur Wladislaw Sankin.