von Karin Leukefeld, Damaskus
Die friedlichen Parlamentswahlen im Libanon am 6. Mai 2018 haben dem Bündnis um die Hisbollah eine deutliche Mehrheit beschert. Der große Verlierer ist die Zukunftspartei des amtierenden Ministerpräsidenten Saad Hariri. Hinter der Hisbollah stehen nicht nur ihre Wähler, sondern auch der Iran. Hinter Hariri, der ein Drittel seiner Wähler verloren hat, stehen die USA, Europa, Israel und einige Golfstaaten. Die regionalen und internationalen Interessenskonflikte der verschiedenen Lager werden in Syrien seit Jahren kriegerisch ausgetragen.
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Unmittelbar nachdem das libanesische Wahlergebnis bekannt war, verkündete US-Präsident Trump am 8. Mai 2018 den einseitigen Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran. Kurz darauf bombardierte Israel Ziele in Syrien, eine weitere Angriffswelle auf Syrien folgte zwei Tage später. Nach Angaben der israelischen Streitkräfte (IDF) sollen zuvor 20 "iranische Raketen" auf den Golanhöhen niedergegangen sein.
Die Entwicklung bedeutet eine gefährliche Eskalation für die Region. Die USA, Israel und einige Golfstaaten wollen den Iran aus Syrien vertreiben. Der eigentlich zu Ende gehende Krieg könnte auf einer neuen Stufe eskalieren.
Mit Gelassenheit hat die Mehrheit der Syrer auf die jüngsten Angriffe Israels reagiert. Viele Bewohner von Damaskus beobachteten das Spektakel von den Dächern und Balkonen ihrer Häuser. Die syrische Nachrichtenagentur SANA veröffentlichte Fotos, auf denen – als Ergebnis erfolgreicher syrischer Luftabwehr – zerstörte Raketenreste in gleißendem Weiß bizarre Formen in den Nachthimmel malten. Anwohner des Flughafens Mezzeh am westlichen Stadtrand berichteten von ohrenbetäubendem Lärm, der vor allem von syrischen Abwehrraketen ausging. Explosionen über der militärischen Forschungsanlage in Jamraya, nördlich von Damaskus, riss selbst Bewohner in entlegenen Dörfern aus der Nachtruhe.
Er habe nicht mehr schlafen können, nachdem die Raketenangriffe ihn in den frühen Morgenstunden geweckt hätten, berichtete Bader M., der nicht weit von Jamraya entfernt lebt. Die Anlage sei schon mehrmals von Israel (2013, 2015) angegriffen worden. Dennoch habe er sich sicher gefühlt, so Bader M. "Die syrische Luftabwehr hat die Raketen abgefangen. Israel hat gedacht, dass wir nach sieben Jahren Krieg am Boden kriechen, aber wir sind noch immer da. Und wir werden bleiben."
Allerdings wurden auch andere Stimmen laut. Anhänger der bewaffneten Opposition in Syrien machten den Iran für die Angriffe Israels verantwortlich. Eine Bewohnerin aus Daraa, die namentlich nicht genannt werden wollte, sagte, dass Israel Syrien nur angreife, weil der Iran als "Besatzungsmacht" Syrien übernehmen wolle. Zöge der Iran ab, gäbe es zwischen Israel und Syrien keine Probleme. Ein anderer Gesprächspartner meinte lakonisch: "Israel bombardiert Syrien, Assad bombardiert sein Volk." Gleichzeitig räumte er ein, dass die Lage in Syrien sich in den letzten Monaten erheblich beruhigt und gebessert habe. Es gäbe Strom und Wasser, und in seinem Dorf nördlich von Damaskus stehe bald die Honigernte an. "In diesem Jahr wird sie besonders gut sein."
"Die iranische Provokation"
Die israelische Darstellung, die die rund dreistündige Angriffswelle in den frühen Morgenstunden des 10. Mai 2018 begleitete, bestimmte die Schlagzeilen in den westlichen Medien. Die iranischen Al-Quds-Brigaden hätten 20 Raketen aus Syrien auf die Golanhöhen abgefeuert, sagte der Sprecher der Israelischen Streitkräfte (IDF) Jonathan Conricus. "Sie zielten auf die erste Linie der israelischen Stellungen." Einige Raketen seien abgefangen worden, es habe nur geringen Sachschaden gegeben. Die Jerusalem Post berichtete später, vier der Raketen seien von dem Luftabwehrsystem ("Eisenkuppel") abgeschossen worden, 16 Raketen seien auf syrischem Territorium gelandet. Niemand sei bei den Angriffen verletzt worden, betonte IDF-Sprecher Conricus. Der "iranische Angriff" sei dennoch ein "schwerwiegender Vorfall".
Unmittelbar darauf folgte der israelische Angriff der in ungewohnter Offenheit von der israelischen Armee, von Verteidigungsminister Avigdor Lieberman und Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bestätigt und kommentiert wurde. Die Armee veröffentlichte sogar eine Karte, auf der 35 Ziele und Einschläge in Syrien markiert waren. Auf der jährlichen Herzliya-Sicherheitskonferenz, die zeitgleich in Tel Aviv stattfand, verkündigte Liebermann: "Der Iran versuchte, das souveräne Territorium Israels anzugreifen, und ist gescheitert." Israel habe daraufhin die militärische Präsenz des Iran in Syrien zerstört. Netanjahu warnte den Iran, er habe auf den Golanhöhen eine "rote Linie" überschritten. Israel habe reagiert und sich verteidigt, "wir werden dem Iran nicht erlauben, sich militärisch in Syrien zu etablieren".
Die westlichen Bündnispartner Israels in Washington, London, Paris und Berlin verurteilten nahezu gleichlautend die "iranische Provokation" und hoben das "Recht Israels auf Selbstverteidigung" hervor. Das Golfemirat Bahrain unterstützte den Angriff Israels auf Syrien. Israel habe das Recht, "sich zu verteidigen", teilte Außenminister Khalid bin Ahmed al-Khalifa per Twitter mit. Der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman äußerte einem Bericht der saudischen Zeitung Al Riad zufolge in einem Telefonat mit Netanjahu Verständnis für den Angriff auf die "feindliche syrische Armee".
Weder vom iranischen Verteidigungsministerium noch von der Armee oder den Al-Quds-Brigaden, die zu den iranischen Revolutionsgarden gehören, gab es eine Stellungnahme zu den Vorwürfen aus Tel Aviv. Der stellvertretende Vorsitzende des Nationalen Sicherheitskomitees im iranischen Parlament Abolfazl Hassan-Baygi sagte dem libanesischen Nachrichtensender Al Manar, der der Hisbollah nahe steht, der Iran habe mit den Raketenangriffen "nichts zu tun". Der Sprecher des iranischen Außenministeriums Bahram Ghassemi verurteilte die israelischen Angriffe auf Syrien. Der "wichtigste Unterstützer der terroristischen Gruppen" in Syrien habe Syrien angegriffen, um die vielen Niederlagen zu rächen, die sie gegen die syrische Regierung hätten hinnehmen müssen. Die Gruppen seien "Stellvertreter", die den Krieg im Auftrag der USA, Israels und ihrer regionalen Verbündeten führten.
Russland, das vermutlich von Netanjahu über den bevorstehenden Angriff informiert worden war, forderte ebenso wie China alle Seiten zur Zurückhaltung auf. Der stellvertretende Außenminister Michail Bogdanow bezeichnete die Entwicklung als "alarmierend und besorgniserregend". Russland stehe mit allen Seiten in Kontakt. Das russische Verteidigungsministerium bestätigte die israelischen Angriffe mit 28 Kampfjets, die bis zu 70 Raketen abgeschossen hätten. Dabei habe Israel wiederholt den libanesischen Luftraum verletzt, wie die libanesische Armeeführung erklärte. Von "iranischen Raketen" war in der Erklärung des russischen Verteidigungsministeriums nicht die Rede.
Die syrische Armeeführung bestätigte weder einen eigenen noch einen iranischen Angriff auf die von Israel besetzten Golanhöhen. Allerdings wurde der israelische Angriff bestätigt, bei dem ein Munitionslager, eine Luftabwehr und eine Radaranlage zerstört worden seien. Man sei in "Alarmbereitschaft" und werde die Souveränität Syriens verteidigen. Die "meisten feindlichen Raketen" seien von der syrischen Luftabwehr unschädlich gemacht worden. Das syrische Außenministerium sprach von einer "neuen Phase im Krieg gegen Syrien". Jetzt griffen die "eigentlichen Feinde" an, nachdem Syrien deren "Agenten" niedergeschlagen habe.
Der Iran will die Anerkennung des neuen Gleichgewichts in der Region
Der Iran hat einen Angriff auf die von Israel besetzten Golanhöhen nicht bestätigt. Möglich ist allerdings, dass die syrische Armee mit Beratung/Unterstützung des Iran für den Angriff verantwortlich ist. Der langjährige Kriegsberichterstatter Mohammad Ballout (Al Akhbar, Libanon) geht davon aus, dass der Iran zumindest hinter den Angriffen steht. Diese seien allerdings keine "Provokation" sondern eine lang erwartete "Reaktion" auf die vielen israelischen Angriffe auf syrische Stellungen gewesen, in denen iranische Militärs mit der syrischen Armee kooperierten. Bei dem Angriff auf den Tiyas-Flughafen T4 (Palmyra) Mitte April 2018 seien sieben iranische Militärberater getötet worden, der Iran sei zu einer Reaktion gezwungen gewesen. Gleichwohl seien die Angriffe auf die Golanhöhen "moderat" ausgefallen, so Ballout. Unter anderem seien Einrichtungen der israelischen elektronischen Kriegsführung und -Abwehr und der dort stationierten Grenztruppen getroffen worden. Die eingesetzten Raketen seien vergleichsweise klein gewesen, Israel schweige dazu. Der Angriff sei als Botschaft an Israel zu verstehen, seine militärischen Provokationen in Syrien zu stoppen. Israel habe sofort mit einem Angriff reagiert, daher sei eine weitere militärische Eskalation in Syrien bei den Golanhöhen wahrscheinlich.
Nicht vergessen werden dürfe zudem, dass es sich bei dem Gebiet um die zu Syrien gehörenden Golanhöhen handelt, die von Israel 1967 völkerrechtswidrig besetzt und 1981 ebenfalls völkerrechtswidrig annektiert worden seien. Völkerrechtlich korrekt betrachtet Damaskus das Gebiet weiterhin als syrisches Territorium und fordert dessen Rückgabe sowie den Rückzug der israelischen Truppen.
Für den Iran geht es nach Einschätzung von Ballout darum, das neue Gleichgewicht im Mittleren Osten zu festigen und Israel (und dessen Verbündete) zu zwingen, das anzuerkennen. Den Krieg in Syrien hätten die USA, der Westen und die Golfstaaten verloren, der Iran und Russland hätten ihre Interessens- und Einflusssphären gefestigt.
In den vergangenen Kriegsjahren habe Israel die iranischen Aktivitäten in Syrien beobachtet, nun, wo der Krieg zu Ende gehe, wolle Israel eine permanente iranische Präsenz im Nachbarland nicht akzeptieren, so Ballout. Israel sei zu einem Krieg gegen den Iran in Syrien sowohl bereit als auch fähig. Dafür habe es nicht nur die Unterstützung der USA, sondern auch von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, so Ballout im Gespräch mit der Autorin. Frankreich, Deutschland, Großbritannien stünden den Plänen zwar kritisch gegenüber, sollte es aber zu einem Krieg kommen, werde die militärische Zusammenarbeit mit Israel im Rahmen der NATO nicht gestoppt.
Der Iran sei nicht zum Rückzug bereit, habe aber auch kein Interesse an einem Krieg mit Israel, führte Ballout weiter aus. Teheran wisse, dass es Israel technologisch nicht gewachsen sei, zumal Israel über Atomwaffen verfüge. Allerdings habe Iran die Fähigkeit, jenseits eines klassischen Krieges Israel unter Druck zu setzen. Als Beispiel nannte Ballout den Libanon, wo – als Reaktion auf die Besatzung Israels 1982 - mit Hilfe des Iran die Hisbollah als militärischer Faktor entstand. Der Gruppe gelang es im Jahr 2000, Israel zum Rückzug aus dem Libanon zu zwingen. Seit dem Krieg 2006 habe die militärische Stärke der Hisbollah Israel von einem weiteren Angriff bewahrt. Dieses Gleichgewicht, so Ballout, wolle der Iran in Syrien ebenfalls etablieren, eine Art "Gleichgewicht des Schreckens".
Kooperation oder Krieg
Bei den Parlamentswahlen im Libanon konnte die Hisbollah sich politisch behaupten. Das Ergebnis zeigt, dass die "Partei Gottes" in allen Teilen der Gesellschaft und religionsübergreifend unterstützt wird. Die Regierung der nationalen Einheit, an der sowohl die westlich orientierte Zukunftspartei als auch die Hisbollah beteiligt war, hat den Libanon in den vergangenen Jahren vor einem Krieg wie in Syrien bewahrt. Möglich war das, weil die regionalen und internationalen Kräfte hinter den jeweiligen Parteien die Kooperation zuließen. Die USA, Europa und die Golfstaaten standen hinter Saad Hariri und der Zukunftspartei, der Iran hinter der Hisbollah.
Das Modell einer Kooperation könnte auch in Syrien funktionieren. Allerdings hat die Regierung von Baschar al-Assad mit Unterstützung Russlands, der Hisbollah und des Iran ihre Position gefestigt, während die von den USA, dem Westen, Israel und den Golfstaaten unterstützte Opposition zerschlagen und geschwächt ist und bei der syrischen Bevölkerung fast vollständig an Glaubwürdigkeit verloren hat. Lediglich die Gebiete östlich des Euphrat werden von der US-geführten Internationalen Allianz in Kooperation mit den syrischen Kurden besetzt gehalten. Die Provinz Idlib und Teile der Provinz Aleppo werden von der Türkei kontrolliert.
Russland und der Iran werden Syrien nicht aufgeben, sind aber zu Verhandlungen und Lösungen bereit. Das Bündnis um die USA ist dabei, seine Interessen in Syrien neu auszurichten. Israel könnte diese Phase nutzen, mit Unterstützung der USA und Saudi-Arabiens einen Krieg gegen den Iran in Syrien zu eskalieren. Russland bietet seine Vermittlung an, Syrien beobachtet und wartet ab. Der Iran wird einer weiteren Konfrontation nicht aus dem Wege gehen.