Die Taliban nähern sich der Hauptstadt Kabul. Die Milizen setzten am Samstag ihren Vormarsch in Afghanistan fort: Nur etwa 35 Kilometer vor Kabul soll es am Samstagmorgen Gefechte um Maidan Shahr gegeben haben, die Hauptstadt der Provinz Wardak.
Die Taliban sollen mittlerweile die Kontrolle über die strategisch wichtige Stadt Masar-e Scharif (in der die Bundeswehr noch bis Juni ihr Hauptquartier hatte) und das Verwaltungszentrum der Provinz Balch im Nordwesten Afghanistans übernommen haben, berichtet der Fernsehsender Al-Arabiya am Samstag unter Berufung auf einen lokalen Regierungsbeamten. Nach Angaben des Fernsehsenders gaben die Regierungstruppen Masar-e-Scharif kampflos auf, legten ihre Waffen nieder und flohen.
Präsident Aschraf Ghani wandte sich am Samstag in einer Fernsehansprache an sein Volk. Er kündigt eine "Remobilisierung" der Streitkräfte an. Trotz der Belagerung weiter Teile seines Landes durch die Taliban zeigte sich Präsident Ghani zuversichtlich, dass eine Friedenslösung noch möglich sei. "Oberste Priorität" habe nun die "Remobilisierung" der afghanischen Streitkräfte.
"Ich möchte Ihnen als Ihr Präsident versichern, dass wir weitere Vertreibungen von Menschen verhindern werden", fügte Ghani hinzu, ohne weitere Details zu nennen. Nach dem Fall der zweit- und der drittgrößten Stadt des Landes ist nun Kabul de facto die letzte Bastion der afghanischen Regierungstruppen. Berichten zufolge sind die Taliban nur noch elf Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Kabul steht vor einer sich verschärfenden humanitären Krise, da Tausende Menschen in die Stadt strömen, um der Gewalt und der Taliban-Offensive zu entkommen, berichtet Al Jazeera.
Einige Medien spekulierten vor seiner Rede, dass Ghani in der Fernsehansprache am Samstag seinen Rücktritt ankündigen und mit seiner Familie wahrscheinlich in ein "Drittland" fliehen würde. Nach ARD-Informationen in Kabul denkt der afghanische Präsident offenbar über einen Rücktritt nach. Dies steht in direktem Zusammenhang mit dem Vormarsch der Taliban in Afghanistan. Wer sein Nachfolger werden könnte, bleibt noch völlig unklar.
Haroun Rahimi, Juraprofessor an der American University of Afghanistan, erklärte, der Einfluss der afghanischen Regierung werde "schrumpfen". Präsident Ghani habe "keine Kontrolle mehr", sagte Rahimi Al Jazeera. "Es geht nicht mehr um Präsident Ghani, es geht darum, den Übergang so unblutig, geordnet und so schnell wie möglich zu gestalten."
Der katarische Außenminister Scheich Mohammed bin Abdulrahman Al Thani forderte die Taliban am Samstag auf, "die Eskalation zu beenden und ihre Offensive einzustellen". Das katarische Außenministerium teilte in einer Erklärung am Samstag mit, dass Al Thani seine Position bei einem Treffen mit dem Leiter des Politbüros der Taliban, Mullah Abdul Ghani Barader, und seiner begleitenden Delegation in Doha erklärt habe. Mohammed Naeem Wardak, der Sprecher des politischen Büros der Taliban in Doha, bestätigte, dass die aktuelle Situation Afghanistans und die jüngsten Entwicklungen des Landes bei diesem Treffen diskutiert worden waren. In Doha finden seit 2020 innerafghanische Friedensgespräche statt.
Der schnelle Vormarsch der Taliban in Richtung Kabul bereitet nicht nur Sorgen um die Zukunft Afghanistans, sondern auch um die Auswirkungen auf andere Länder in der Region, so Al Jazeera. "Es ist eine sehr beunruhigende Situation und hat die Region leider um viele Jahre zurückgeworfen", sagte Shamaila Khan, Director of Emerging Markets Debt bei AB (AllianceBernstein). "Ich denke, die Nachbarländer werden in den kommenden Monaten und Jahren mit einem Zustrom von Flüchtlingen zu kämpfen haben", fügte sie hinzu.
Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock forderte inzwischen die Aufnahme von Kontingenten afghanischer Flüchtlinge in Europa, den USA und Kanada. Man müsse sich jetzt darauf vorbereiten, "dass weitere Menschen in so einer dramatischen Situation ihr Land verlassen müssen", sagte sie im "Interview der Woche" mit dem Deutschlandfunk. Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion Mathias Middelberg (CDU) widersprach ihr und sagte der Deutschen Presse-Agentur, die Forderung, eine große Zahl afghanischer Flüchtlinge in der Europäischen Union aufzunehmen, sei verfehlt.
Der rasche Rückzug der US-Truppen wurde mittlerweile zu einem westlichen Trauma, da es in Afghanistan selbst nach 20 Jahren Krieg keine Spur von Stabilität und Sicherheit gibt. Im Zuge der Taliban-Offensive haben sich auch Zivilisten bewaffnet, wodurch ein neuer Bürgerkrieg auszubrechen droht.
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