von Karin Leukefeld
Es war gegen 18:00 Uhr Ortszeit, als sich vor einem Jahr, eine gigantische Explosion im Hafen von Beirut ereignete. Manche dachten an ein Erdbeben, viele dachten an einen israelischen Luftangriff. Manche fühlten sich angesichts des Feuerballs in den Bürgerkrieg zurückversetzt.
Nur wenige Minuten später machte eine Twitter-Nachricht die Runde: "Jeder im Libanon muss im Haus bleiben", schrieb ein Absender namens "Elie". "Angesichts der Flamme sieht es aus, als sei Salpetersäure explodiert. BITTE BLEIBT DRINNEN!"
Viele aber waren unterwegs, als die Explosion sich ereignete. Sie waren auf dem Nachhauseweg von der Arbeit, vom Einkaufen oder sie hatten die Kinder abgeholt. Auf der Schnellstraße Charles Helou, die mehrspurig am Hafen entlangführt, herrschte dichter Feierabendverkehr.
Zahlreiche Menschen in den umliegenden Vierteln hatten zudem auf ihren Balkonen oder an ihren Fenstern mit den Handys ein Feuer beobachtet, das schon seit einiger Zeit im Hafen brannte. Hubschrauber und Feuerwehrleute waren im Einsatz. Dann schoss ein Feuerball empor, begleitet von einer pilzartigen Rauchwolke, die an eine Atombombenexplosion erinnerte. Danach stieg eine riesige Rauchsäule auf, während die Standorte der Augenzeugen zerbarsten.
Mehr als 200 Menschen starben, mehr als 5.000 wurden verletzt. Große Teile der alten Beiruter Hafenviertel Mar Mikhail, Qarantina und Gemmayzeh wurden ganz oder teilweise zerstört. Auch die vielstöckigen Luxusgebäude, Geschäftstürme und Hotels, die vor die ursprüngliche Bebauung Beiruts in unmittelbare Nähe zu Hafen und Meer gebaut worden waren, blieben nicht verschont. Der Glaspalast des libanesisch-französischen Containergiganten CMA CGN zersplitterte. Selbst in entfernt liegenden aber doch der Hafenbucht zugewandten Stadtvierteln wurden Fenster zerstört, Balkone ab- und Hauswände aufgerissen.
In den folgenden Tagen wurde bekannt, dass mehr als 2.000 Tonnen Ammoniumnitrat in die Luft geflogen war. Das Material war unsachgemäß gelagert und vernachlässigt worden, nachdem das Lastschiff MV Rhosus mit der angeblich für Mosambique bestimmten Ladung von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im November 2013 den Hafen von Beirut angelaufen hatte und dort als seeuntüchtig aus dem Verkehr gezogen worden war. Niemand wollte das Schiff oder die Ladung zurücknehmen, die schließlich in Hangar 12 gelagert wurde. Kapitän und Mannschaft der MV Rhosus wurden evakuiert.
Vier Ministerpräsidenten und deren Regierungen hatten die tödliche Fracht seit 2013 ignoriert, bis sie sich – offiziell durch ein Feuer von ebenfalls dort gelagerten Feuerwerkskörpern – entzündete. Satellitenaufnahmen zeigen, dass dort, wo Hangar 12 gestanden hatte, ein tiefer Krater klafft. Das Meer ist eingespült und lässt den Ort wie eine kleine Bucht aussehen.
Ein Jahr später ist die Bilanz der Katastrophe bitter
Die Zerstörung des Hafens von Beirut setzte eine Kettenreaktion in Gang, die Wirtschafts- und Finanzkrise im Libanon massiv verschärfte. Der lukrative Handel und damit verbundene wichtige Einnahmequellen stoppten, ausländische Devisen blieben aus, die tönernen Füße, auf denen der Chef der Libanesischen Zentralbank die Finanzpolitik des Landes gebaut hatte, brachen ein.
Privatanleger verloren ihr Geld, Auszahlungen wurden gestoppt, Gehälter im staatlichen Bildungs- und Gesundheitssektor wurden so massiv reduziert, dass Tausende Ärzte, medizinisches Fachpersonal und Lehrer das Land verließen.
Das libanesische Pfund, das seit dem Ende des Bürgerkrieges 1990 an den US-Dollar gebunden war, geriet außer Kontrolle. Inzwischen sind Weizen, Öl und Medikamente, die von der Zentralbank subventioniert worden waren, teuer und knapp geworden. Lange Schlangen vor den Tankstellen und massive Stromausfälle sind die Folgen. Schmuggel und Korruption blühen.
Bei den Opfern der Hafenexplosion hat sich niemand entschuldigt oder nach deren Befinden erkundigt. Allein auf sich gestellt – wie seit Jahrzehnten – suchen und finden die Menschen Trost und Hilfe bei ihren Familien, ihrer Religionsgruppe oder ihrem jeweiligen Lieblingsausland: Frankreich, Deutschland, USA, Saudi-Arabien oder Katar.
Diese Länder wiederum unterstützen durch staatliche und private Hilfsorganisationen und Stiftungen Gruppen der so genannten libanesischen Zivilgesellschaft mit Geld für Projekte, die den Opfern helfen sollen. Gleichzeitig wird eine neue Elite geschaffen und der politische Spielraum staatlicher Akteure durch Sanktionen von USA und EU beschränkt. Private Überweisungen in Millionenhöhe, die von Libanesen im Ausland monatlich zumeist in US-Dollar oder Euro an ihre Familien überwiesen worden waren, wurden gestoppt.
Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF weist vor allem auf die vielen Probleme für Kinder und Familien hin, die versuchen, inmitten der zahlreichen Krisen zu überleben. Wirtschafts- und Finanzkrise, politische Instabilität und nicht zuletzt die verheerenden Auswirkungen der Maßnahmen gegen die COVID-19-Pandemie – Schließungen von Schulen und Universitäten, von Betrieben und selbst dem Flughafen – werden Kinder und ihre Familien auf Jahre hin beeinträchtigen, heißt es in einer UNICEF-Erklärung.
Ministerpräsident Hassan Diab übernahm die politische Verantwortung für die Explosion und trat mit seiner Regierung nach nur sechs Monaten Amtszeit zurück. Die Verfassung zwingt ihn und seine Regierung solange geschäftsführend im Amt bleiben, bis ein neuer Ministerpräsident und eine neue Regierung vom Parlament und Präsidenten bestätigt wurden. Doch politische Machtspiele der inneren und äußeren Akteure blockieren die Bildung einer neuen Regierung bis heute.
Es gehe zu wie auf der Titanic, sagt Mohammad Ballout, langjähriger Korrespondent der libanesischen Tageszeitung As Safir und anderer Medien, im Gespräch mit der Autorin: "Libanon geht unter, doch die Musik wird weiter gespielt. Nur mit dem Unterschied, dass auf der Titanic 2.000 Menschen waren. Wir sind 5 Millionen."
Der Milliardär Najib Mikati soll die neue Regierung bilden
Ende Juli beauftragte das libanesische Parlament den Geschäftsmann Najib Mikati mit der Regierungsbildung. Das Magazin Forbes beziffert das Vermögen Mikatis auf 2,7 Milliarden US-Dollar. Das Unternehmen, das er mit seinem Bruder Taha führt, ist weltumspannend im Bereich von Telekommunikation und Immobilien tätig.
Mikati sei eine tragende Säule des libanesischen Regimes, so Ballout. Zusammen mit seinem Bruder Taha habe er nach dem Bürgerkrieg unter dem damaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri zunächst als Mobilfunkanbieter ein Vermögen erwirtschaftet. Das Familienunternehmen breitete sich nach Syrien, Afrika und Asien aus und sei heute auch in Europa aktiv.
Mikati vertrete keine Partei, er verstehe sich mit allen und habe durchaus Chancen, eine Regierung bilden zu können, so Ballout weiter. Die Öffentlichkeit könne er durch die von ihm finanzierte Internetplattform Lebanon 24 beeinflussen. Während andere die verschiedenen Interessen spalteten, könne Mikati sie verbinden: "Anders als Hariri hat Mikati kein Problem mit Michel Aoun. Er hat kein Problem mit Hisbollah oder Amal, den Schiiten. Und er hat kein Problem mit den Sunniten. Außerdem weiß er sowohl die USA, als auch die arabischen Golfstaaten und Frankreich hinter sich. Er hat viele Karten in der Hand."
Najib Mikati hat bereits angekündigt, er wolle den Vorschlag Frankreichs umsetzen, sollte er eine neue Regierung bilden können. Er habe keinen Zauberstab, aber er habe Garantien. Über ein Regierungsprogramm brauche Mikati sich keine Sorgen machen, so Ballout. "Er braucht kein Programm, keine libanesische Regierung braucht ein Programm, weil der IWF das Programm bereits festgelegt hat. Es geht darum, dass Libanon die IWF-Bedingungen akzeptiert. Das ist, was als 'Reformen' bezeichnet wird.“ Sollte eine Regierung Mikati zustimmen, werde Frankreich die Verhandlungen beim Internationalen Währungsfonds (IWF) für den Libanon führen, so Ballout. Die USA, die im IWF den Ton angeben, haben ihre Zustimmung signalisiert.
Innenpolitisches Problem für Mikati sei, sich mit Aoun über den Posten des Innenministers zu einigen. Die Amtszeit von Präsident Aoun sei 2022 zu Ende, im März seien Parlaments- und im November seien Präsidentschaftswahlen geplant: "Aoun hat nichts vorzuweisen, was er erreicht hätte", führt Ballout aus. "Im Gegenteil, die Lage ist schlimmer als 1920, als Frankreich Mandatsmacht wurde. Aoun will sicherstellen, dass sein Schwiegersohn ihm als Präsident folgt, dafür will er das Innenministerium kontrollieren, um auf die Wahlen Einfluss nehmen zu können."
So wenige Probleme Mikati mit internationalen Akteuren zu haben scheint, so gering ist sein Ansehen unter den Libanesen. Er hatte sich vor einigen Jahren für den Bau von Luxuswohnungen für sich und seinen Sohn aus einem Kreditfonds bedient, der "nicht für Milliardäre sondern für arme und Mittelstands-Familien" vorgesehen sei, wenn sie Eigentum erwerben wollten. Der Chef der Zentralbank Riad Salameh hatte den Kredit, der aus öffentlichen Geldern gespeist und über eine weitere Bank ausgezahlt worden war, möglich gemacht. Ein Ermittlungsverfahren war 2019 eingestellt worden. "Die Libanesen vergessen es nicht, dass der Milliardär Mikati öffentliche Gelder für den Bau von Privatwohnungen benutzt hat." Heimat von Najib Mikati ist die nordlibanesische Hafenstadt Tripoli. Sie gilt als eine der ärmsten Städte im östlichen Mittelmeerraum.
EU: Sanktionen statt Politik
Nur wenige Tage nachdem das Parlament im Libanon Najib Mikati beauftragt hat, eine neue Regierung zu bilden, hat die EU-Kommission den juristischen Rahmen für Strafmaßnahmen gegen den Zedernstaat beschlossen. Bestraft werden sollen Personen und Unternehmen, die im Libanon gegen das Recht verstoßen und die Demokratie gefährden, hieß es in einer entsprechenden Erklärung. Genannt werden Korruption, Menschenrechtsverletzungen, Blockadehaltung bei der Regierungsbildung und "finanzielles Fehlverhalten". Das Wichtigste sei, dass eine Regierung gebildet werde, die "die notwendigen Maßnahmen umsetzt, um das Land in eine nachhaltige Erholung zu führen".
Frankreich und Deutschland stehen an der Spitze der europäischen Staaten, die die miteinander konkurrierenden politischen Eliten im Zedernstaat unter Druck setzen wollen, ihre Politik zu ändern und Reformen einzuleiten. Der Sanktionsplan sieht vor, Reisebeschränkungen auszusprechen und privates Vermögen in europäischen Banken zu beschlagnahmen. Gleichzeitig dürfen europäische oder internationale Gelder nicht an den Libanon ausgezahlt werden, sollten die von Sanktionen betroffenen Personen einen Regierungsposten haben.
Tatsächlich geht es darum, Libanon unter das Diktat des Internationalen Währungsfonds zu pressen. Die damit verbundenen Konditionen bedeuten die Privatisierung der letzten noch staatlich verwalteten Bereiche wie Elektrizität und Telekommunikation. Auch die zukünftige Förderung der libanesischen Gasressourcen aus dem Mittelmeer wäre davon betroffen. Namentlich nicht genannte europäische Beamte haben allerdings durchblicken lassen, dass mit der Umsetzung von Sanktionen nicht sofort zu rechnen sei.
Die USA begrüßten die Sanktionsentscheidung der EU-Kommission. Washington freue sich "auf die zukünftige Zusammenarbeit mit der EU bei unseren gemeinsamen Vorhaben", hieß es in einer gemeinsamen Erklärung von US-Außenminister Antony Blinken und Finanzministerin Janet Yellen.
Die USA haben Sanktionen gegen verschiedene ehemalige Minister verhängt, die nach Darstellung Washingtons mit der Hisbollah zusammengearbeitet hätten. Auch Gibran Bassil ist von US-Sanktionen betroffen. Der Schwiegersohn von Präsident Michel Aoun ist Vorsitzender der Freien Patriotischen Bewegung (FPM), die mit 27 Abgeordneten den größten Block im libanesischen Parlament stellt. Die FPM ist im Bündnis mit der Amal-Bewegung und der Hisbollah, gemeinsam verfügen sie über eine Mehrheit. Aoun will Bassil als seinen Nachfolger installieren.
Innerhalb der EU hat sich bereits Ablehnung gegen ein mögliches Sanktionsregime gegen den Libanon formiert. Italien hält die Maßnahme für nicht zielführend, Ungarn lehnt ein Sanktionsregime gegen einen christlichen Staat ab.
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