Ein bewaffneter Angreifer hat bei einem Anschlag auf das Büro der prokurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) in der im Westen der Türkei gelegenen Stadt Izmir eine Frau ermordet. Der mutmaßliche Täter erklärte, er hat aus Hass auf die in der Türkei verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gehandelt. Im Parteibüro habe er zufällig um sich geschossen und wurde im Anschluss an den Angriff verhaftet. Die türkische Regierung wirft der HDP vor, eine Vorfeldorganisation der PKK zu sein.
Laut der oppositionellen kemalistischen Zeitung Cumhuriyet erklärte er, er habe als Einzeltäter gehandelt. Er soll 27 Jahre alt sein. Lokale Behörden teilten mit, dass der Angreifer im Gesundheitssektor arbeitet. Unbestätigten Berichten türkischer Medien zufolge soll der Angreifer ein Sympathisant der ultranationalistischen "Grauen Wölfe" sein. Das liberale Nachrichtenportal Artı Gerçek berichtete, dass in den sozialen Medien Bilder des Angreifers zu finden sind, auf denen er mit Waffen des türkischen Militärs posiert. Auch gebe es Inhalte auf Instagram, die belegen würden, dass er sich in Syrien befand. Er soll einen Post geteilt haben mit der Nachricht: "Zurück vom Dienst" (in Syrien). Außerdem soll er auf eine rassistische und frauenfeindliche Art gegen das kurdische Volk gehetzt haben.
Die Tat wurde einhellig verurteilt. Der türkische Justizminister Abdulhamit Gül schrieb auf Twitter, dass er den "Angriff und den Mord" verurteile. Das Ziel von Provokationen sei "Dunkelheit, Unruhe und Unsicherheit". Er versprach, dass die Justiz den Vorfall gründlich aufklären werde. Der Sprecher der regierenden AKP-Partei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan verurteilte auf Twitter ebenfalls die Tat. Die Türkei werde es niemals gegen die Ruhe und Sicherheit gerichtete Provokationen zulassen.
Auch andere Oppositionsparteien äußerten sich zu dem Vorfall. Die Vorsitzende der nationalkonservativen Oppositionspartei IYI verurteilte den Angriff und drückte gegenüber der Familie der ermordeten HDP-Politikerin Deniz Poyraz ihr Beileid aus. Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der größten Oppositionspartei, der kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP), rief nach dem Angriff den Ko-Vorsitzenden der HDP Mithat Sancar an und verurteilte in den sozialen Medien den Mord. Man habe ein derartiges Szenario bereits erlebt. Niemand solle sich von einer solchen Provokation etwas erhoffen. Der CHP-Abgeordneter Sezgin Tanrıkulu verwies darauf, dass die Justiz eine lange Zeit bezüglich der Brandmarkung der HDP als Angriffsziel durch die AKP ein Auge zugedrückt habe. Die Regierungspartei pflege eine polarisierende Sprache. Er rief die AKP dazu auf, sich von ihrer bisherigen Linie zu distanzieren. Auch verschiedene Gewerkschaften, Berufsverbände und andere Massenorganisationen verurteilten die Tat.
Der im Exil lebende türkische Mafiaboss Sedat Peker warnte davor, dass ähnliche, noch größere Provokationen drohen. Ein "sehr großes Spiel" werde inszeniert. Er war vormals mit der Regierung verbandelt, aber brach mit ihr, nachdem ein verfeindeter Mafiaboss auf Druck der nationalistischen MHP, des Koalitionspartners der AKP, aus dem Gefängnis entlassen wurde. Peker veröffentlicht seit einiger Zeit regelmäßig Videos über mutmaßliche Korruption in der türkischen Regierung.
Mithat Sancar erklärte, dass der "kleine Partner der Regierung" – gemeint ist die MHP – mitverantwortlich sei für die Tat, da sie Journalisten, Politiker und vor allem die HDP sowie alle demokratischen Massenorganisationen als Ziel brandmarke. Die Regierung "als Ganzes" sei für den Angriff verantwortlich. Er warf der AKP-Regierung vor, jeden Tag "mit der Stimme des Hasses" zu sprechen und allein die Politik der Verfeindung zu bedienen. Selahattin Demirtaş, der inhaftierte ehemalige Ko-Vorsitzende der HDP, erklärte in einer schriftlichen Mitteilung, dass die Täter und die Ziele des Angriffes bekannt seien. Die HDP werde nie dem Zorn erliegen und sich von ihrem demokratischen Kampf und dem Frieden abwenden.
Der HDP droht derzeit ein Verbotsverfahren. Anfang Juni hatten Staatsanwälte den Antrag an den Kassationshof der Türkei eingereicht, die Partei zu verbieten. Der HDP wird vorgeworfen, gegen die "unteilbare Einheit des Landes und der Nation" Verstöße verübt zu haben. Bereits im März hatten die Staatsanwälte ein Verbotsantrag vorgelegt, den die Richter jedoch aufgrund formeller Fehler zurückwiesen. Der gerichtliche Berichterstatter empfahl am Freitag, dem Verbotsantrag zuzustimmen. Die prokurdische HDP ist mit 56 Abgeordneten die drittstärkste im türkischen Parlament vertretene Partei.
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