Als mögliche Kriegsverbrechen beschrieb jüngst auch die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet in der Sondersitzung des UNO-Menschenrechtsrates die tödlichen Angriffe Israels auf Gaza, die hinsichtlich möglicher "Kriegsverbrechen" untersucht werden müssten. Bei den elftägigen Kampfhandlungen kamen 253 Palästinenser, darunter 66 Kinder, ums Leben, mehr als 1.900 Menschen wurden verwundet.
"Das ist der Preis des Krieges", titelte die israelische Zeitung Haaretz am Donnerstag zu Bildern von 67 getöteten palästinensischen Kindern und Jugendlichen von sechs Monaten bis 17 Jahren.
Doch das israelische Militär gab sich Berichten zufolge geradezu stolz angesichts des angeblich effizienten "ersten KI-Kriegs", wie es den elftägigen, opferreichen Einsatz nannte:
"Zum ersten Mal war die künstliche Intelligenz (KI) eine Schlüsselkomponente und ein Machtmultiplikator im Kampf gegen den Feind", so ein hochrangiger Offizier des Nachrichtendienstes der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF), der von israelischen Medien zitiert wurde.
Das israelische Militär glaube, dass der Einsatz von KI dazu beigetragen habe, mittels Super-Kognition "effektiv und schnell" Ziele ausfindig zu machen, wie es in der Jerusalem Post hieß.
Die Elite-Geheimdiensteinheit 8200 nutzte demnach Programme namens "Alchemist", "Gospel" und "Depth of Wisdom", um die ohnehin schon überwältigende Überlegenheit der IDF gegenüber den Kämpfern in der blockierten Gaza-Enklave weiter auszubauen. Die KI-gestützte Analyse wurde auf riesige Datenmengen angewandt, die durch Satellitenaufnahmen, Überwachungskameras, Abhören von Kommunikation und menschliche Intelligenz gesammelt wurden, so das israelische Militär.
Das Volumen der Informationen war atemberaubend. Die IDF erklärten zum Beispiel, dass jeder beliebige Punkt in Gaza während des Konflikts mindestens zehnmal pro Tag abgebildet wurde. Das Militär scheint mit dem, was es aus den Algorithmen herausbekommen hat, zufrieden zu sein. Das "Gospel"-Programm zum Beispiel markierte in Echtzeit Hunderte von Zielen, die die israelische Luftwaffe angreifen sollte, während das "Alchemist"-System die israelischen Truppen vor möglichen Angriffen auf ihre Stellungen warnte, so die Berichte.
Den Enthusiasmus der IDF für ihren vermeintlichen Meilenstein der miltärischen KI-Anwendung teilen nicht alle. Nicht nur wurden – abgesehen von den "Zielen der Hamas und des Islamischen Dschihad in Palästina", die die israelischen Berichte ausschließlich nennen – zahlreiche Zivilisten zum Opfer der angeblich so präzisen israelischen Streitkräfte, ganz zu schweigen von milliardenschweren Schäden an mitunter kritischer Infrastruktur. Vielmehr erscheint einigen Beobachtern dieses Loblied auf den Einsatz künstlicher Intelligenz wie eine Verkaufsargumentation, während der Gazastreifen, über den Israel samt ungelöstem Konflikt mit der Hamas enorme Kontrolle hat, offenbar als Testgebiet israelischer Militärtechnologien dient.
Doktor Shir Hever, der in Israel aufgewachsen war und in Berlin über die Privatisierung der israelischen Sicherheit promoviert hatte, hat unter anderem über die politische Ökonomie der Besatzung ein Buch verfasst. Er erklärte bereits vor Jahren, dass kommerzielle Erwägungen der Rüstungsindustrie eine Schlüsselrolle in Israels Politik gegenüber dem Gazastreifen spielen.
Hever ist Vorstandmitglied der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V." und führte in einem Interview über die von der Trump-Administration beschlossenen Abkommen zwischen Israel und mehreren arabischen Ländern ein Zitat von Henry Kissinger zur Erklärung der massiven militärischen Unterstützung seitens den USA an, wonach "für jeden Panzer, der Israel kostenlos zur Verfügung gestellt wird, die Nachbarn Israels vier Panzer von den USA kaufen".
Laut Hever sind solche Waffentests, die während des regelmäßigen Aufflackerns von Gewalt durchgeführt werden, für Israel unerlässlich, um einen Wettbewerbsvorteil auf dem globalen Waffenmarkt zu erhalten. Israelische Hersteller vermarkten fortschrittliche Drohnen, Raketenabwehrsysteme und andere Produkte an ausländische Kunden – darunter die hiesige Luftwaffe – mit nach Werbeetiketten klingenden Bezeichnungen wie "kampferprobt" oder "im Einsatz getestet". Der israelische Verteidigungssektor pflegt ein enges Verhältnis zum Militär und zur Regierung im Allgemeinen, und Kriegseinsätze im Gazastreifen sind auch laut dem Journalisten Shuki Sadeh eine Art Melkkuh für die israelische Waffenindustrie.
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Neben den Waffen sind auch die zur Datensammlung eingesetzten Technologien, die viele der Daten für die Algorithmen der IDF lieferten, ebenfalls zu einem großen Teil im israelisch-palästinensischen Konflikt verwurzelt. Die Angst vor Terroranschlägen durch radikalisierte Mitglieder der Bevölkerung in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten dient als Rechtfertigung dafür, Sicherheitsbehörden entsprechend aufzurüsten. Dazu gehören die Massenüberwachung durch Straßenkameras, das massenhafte Sammeln von Kommunikations-Metadaten, die Echtzeitüberwachung sozialer Medien und andere Bereiche.
Nach Angaben des israelischen Militärs habe der Einsatz von KI-gestützter Kriegsführung im Gazastreifen geholfen, zivile Opfer zu minimieren. Laut dem UN-Menschenrechtsrat ist bisher jedoch nicht einmal erwiesen, dass sich in den per Luftangriffen zerstörten Gebäuden - in denen sich unter anderem Familien mit Kindern aufhielten - überhaupt militärische Ziele befanden.
Auch Militärexperten wie Franz-Stefan Gady, der sich am International Institute for Strategic Studies (IISS) mit Fragen nach Kriegen der Zukunft auseinandersetzt, reagierte kritisch auf die Behauptung, dass an dem Einsatz im Gazastreifen erstmalig "intelligente Technologien"zum einsatz gekommen seien. Auf Twitter schrieb er
Der erste "KI Krieg"? Die Tatsache dass nicht ein einziger Vorfall erwähnt wird, bei dem KI-gestützte ..Systeme, falsch lagen/ Fehler machten, macht mich sehr skeptisch gegenüber den allgemeinen Behauptungen in diesem Artikel.
Während sich auch aufgrund der haarsträubenden Berichte in den sozialen Netzwerken über die Vorgänge im Gazastreifen und den besetzten Gebieten immer mehr Stimmen, darunter nicht wenige Juden, entsetzt über die Opfer unter palästinensischen Zivilisten und den disproportionalen Einsatz von Gewalt zeigen, stecken die IDF bereits kurz nach Beginn der Waffenruhe in den Vorbereitungen kommender Einsätze.
Denn statt einer Aufarbeitung, wie von Menschenrechtsorganisationen wie auch der UNO nahegelegt, heißt es, solche Ansätze seien anti-israelisch oder gar antisemitisch, während seitens der israelischen Streitkräfte zu vernehmen ist, dass es Raketen der Hamas und dschihadistischer Gruppen gewesen seien, die im Gazastreifen zu zivilen Opfern geführt hätten.
Diese Erkenntnis mag umso verwunderlicher erscheinen, als es die dank künstlicher Intelligenz hochentwickelten Datensammlungsfähigkeiten der IDF - unter Nutzung von menschlichen Quellen (HUMINT) über elektronische und andere nachrichtendienstliche Informationsbeschaffung, bis hin zu Satelliten (GEOINT) - versäumen zu erklären, wie Hamas-Raketen derartige Zerstörungen herbeigeführt haben sollen.
Derweil blieben Hauptangriffsziele der israelischen Armee während der elftägigen Kampfhandlungen, darunter der Hamas-Chef Jahja al-Sinwar und sein Bruder Muhammad al-Sinwar trotz aller Daten und dem Luftangriff auf sein Haus verschont.
Auch klafft die von der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, am Donnerstag aufgezeigte Erklärungslücke für die vorgebliche militärische Nutzung ziviler Gebäude in Gaza, die von israelischen Kampfjets getroffen wurden, trotz aller smarten, nachrichtendienstlichen Informationen weiter.
Inwieweit es intelligent im Sinne von zielführend ist, eine angebliche Feindseligkeit, gegen die sich der eigenen und von einigen westlichen Regierungen übernommenen Erklärung zufolge Israel lediglich gewehrt hat, durch derart massive Gewalt zu bekämpfen, bleibt ebenfalls wohl noch unbeantwortet.
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