Der Lebenslauf von Abu Muhammad al-Dschaulani (englisch: Abu Mohammad al-Jolani bzw. al-Julani) liest sich wie die Bilderbuchkarriere eines dschihadistischen Terroristen. Nach der Invasion des US-Militärs in den Irak 2003 kämpfte al-Dschaulani in den Reihen des Al-Qaida-Ablegers "Islamischer Staat Irak" (ISI), aus dem später der weltweit berüchtigte "Islamische Staat" (IS) hervorging.
Nach dem Ausbruch der Aufstände in Syrien im Jahr 2011 expandierte die irakische Al-Qaida–Filiale in den Levante-Staat. Auf Befehl von ISI-Führer Abu Bakr al-Baghdadi gründete al-Dschaulani dort den Ableger Jabhat al-Nusra (al-Nusra-Front), der immer mächtiger wurde.
Streitigkeiten zwischen al-Baghdadi und Al-Qaidas obersten Anführer Aiman az-Zawahiri führten schließlich zu einer Spaltung: Der ISI löste sich von Al-Qaida ab und die Nusra-Front wurde fortan zur offiziellen Vertretung Al-Qaidas in Syrien – kommandiert von al-Dschaulani. Die USA stufen ihn seit 2013 als Terroristen ein und haben eine Belohnung in Höhe von 10 Millionen US-Dollar für Hinweise ausgesetzt, die zu seiner Ergreifung führen.
In Jahr 2015 eroberte die Nusra-Front im Verbund mit anderen islamistischen Kampfgruppen wie der Ahrar al-Sham die nördliche Provinz Idlib, die heute die letzte Bastion der Dschihadisten in Syrien ist. Koordiniert wurde der Feldzug von dem von der CIA betriebenen Military Operations Center (MOC) in der Türkei. Wie das Brookings Institute seinerzeit berichtete, spielten US-Waffen nicht nur eine "entscheidende Rolle" bei der Vertreibung der Regierungstruppen. Laut der US-Denkfabrik habe das MOC zwar davon abgesehen, die Al-Qaida-Kämpfer direkt zu unterstützen, jedoch habe es die sogenannten moderaten Rebellen "ausdrücklich ermutigt, eine engere Kooperation mit den Islamisten einzugehen". Seitdem hat sich die Provinz zu einem Hotspot entwickelt, der Dschihadisten aus aller Herren Länder anzieht.
Al-Qaida-Terroristen versuchen den Imagewechsel
Das Branding "Al-Qaida" wurde jedoch für die Nusra-Front zunehmend hinderlich, da es eine offene Unterstützung durch ausländische Staaten unmöglich machte, die den Regime-Change in Syrien vorantreiben wollten.
Daher benannte sich die Nusra-Front im Jahr 2017 in Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) um, weiterhin befehligt von al-Dschaulani. Doch der durchschaubare Etikettenschwindel – der mit der Aufnahme kleinerer islamistischer Kampfgruppen einherging, was eine gewisse Vielfalt vortäuschen sollte – fruchtete nicht: Die USA und andere NATO-Staaten listen HTS weiterhin als Terrorgruppe.
Folgerichtig bezeichnete der damalige US-Sonderbeauftragte für die Internationale Allianz gegen den Islamischen Staat, Brett McGurk, im Juli 2017 die Provinz Idlib als "Al-Qaidas größten Schutzraum" ("safe haven") seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ("9/11"). Idlib sei nun ein "großes Problem", so McGurk damals.
Die Provinz sei ein "Magnet" für Terrorgruppen, die eine "Plage, eine Bedrohung und eine Gefahr" für die hunderttausenden dort lebenden Zivilsten seien, erklärte auch vor einem Jahr der Sprecher der Anti-IS-Koalition, US-Colonel Myles Caggins.
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Bis heute wird die Provinz von HTS kontrolliert. Ihr Image als "größter Schutzraum" für Al-Qaida wollen die Terroristen aber unbedingt loswerden und sich als "moderate" Islamisten verkaufen, wie die Financial Times im Februar berichtete.
Al-Dschaulani im Interview: Wir sind keine Bedrohung für das Ausland
Als Teil dieser PR-Kampagne gab al-Dschaulani nun erstmals einem US-amerikanischen Journalisten ein Interview, das am Freitag von PBS veröffentlicht wurde.
Darin versicherte der Terrorchef gegenüber dem Journalisten Martin Smith, das HTS keine Gefahr für die USA darstelle und Washington ihn von der Terrorliste streichen sollte.
"Zuallererst, diese Region stellt keine Bedrohung für die Sicherheit Europas und Amerikas dar. Diese Region ist kein Aufmarschgebiet für die Ausübung des Dschihads im Ausland", beteuerte al-Dschaulani.
Die Einstufung als Terrorgruppe sei "unfair", seine Verwicklung mit Al-Qaida habe geendet und schon in der Vergangenheit habe sich seine Organisation "gegen die Ausführung von Operationen im Ausland" ausgesprochen.
Vorwürfe der UN und von Human Rights Watch, wonach HTS schwere Menschenrechtsverbrechen begangen habe, darunter Folter und Hinrichtungen von Gefangenen, wies al-Dschaulani in dem Gespräch zurück: "Es gibt keine Folter. Ich weise dies vollständig zurück."
Al-Dschaulani verwahrte sich auch gegen den Vorwurf von Human Rights Watch, die HTS habe, nachdem sie Territorium an das syrische Militär verloren hatte, "ihre Verhaftungskampagnen beschleunigt, um die Bevölkerung in den verbleibenden Gebieten ihrer Kontrolle zu unterwerfen".
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Man habe neben IS-Mitgliedern lediglich "Agenten des Regimes" und "russische Agenten, die Sprengfallen legen wollten", inhaftiert, erwidert der HTS-Führer.
PBS zitiert dazu Aaron Zelin vom Washington Institute for Near East Policy, das sich mit dschihadistische Gruppen in Nordafrika und Syrien befasst. Al-Dschaulanis Absichten seien demnach schwer einzuschätzen, weil er sich in der Vergangenheit wie "ein Chamäleon" verhalten habe. Wie könne man jemanden trauen, "der nur versucht zu überleben und weiter an der Macht zu bleiben?", fragt Zelin. Ein Imagewechsel sei schließlich "der einzige Weg, wie er es kann", so Zelin.
Ein Aktivposten für Amerikas Strategie in Syrien
So durchschaubar al-Dschaulanis Absicht ist, die Verbrechen seiner Terrorgruppe zu verharmlosen, so bemerkenswert ist die Aussage von James Jeffrey, der bis November 2020 der US-Sonderbeauftragte für die Internationale Allianz gegen den Islamischen Staat war.
Gegenüber Mark Smith sagte er, dass die HTS-Terrorgruppe "ein Aktivposten" ("asset") für Amerikas Strategie in Idlib sei. "Sie sind die am wenigsten schlechte Option der verschiedenen Optionen bezüglich Idlib, und Idlib ist einer der wichtigsten Orte in Syrien, was momentan einer der wichtigsten Orte im Nahen Osten ist", so Jeffrey.
Die Imagekampagne der Al-Qaida-Terroristen, die angeblich mit Al-Qaida nichts mehr zu tun haben, trägt offenbar erste Früchte. Knapp 20 Jahre nach den 9/11-Anschlägen genieren sich US-Vertreter nicht mehr, nun auch in der Öffentlichkeit einzugestehen, dass sie in Syrien mit denselben Kräften an einem Strang ziehen, gegen die sie ursprünglich den globalen "Krieg gegen den Terror" ausgerufen hatten.
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