von Alexander Männer
Ungeachtet mancher Schwankungen ist das zentralasiatische Land noch in der Lage, das Gleichgewicht in dieser Problematik zu bewahren. Die Frage ist: wird Kasachstan auch langfristig quasi neutral bleiben?
In Anbetracht der heutigen Konflikte in dem postsowjetischen Raum wäre die kasachische Führung in der Hauptstadt Nursultan gut beraten, zumindest ein unbedachtes Abdriften in den Einflussbereich des Westens zu vermeiden. Denn ein einseitig westlicher Kurs, ist erfahrungsgemäß – wie im Fall der Ukraine – unerbittlich, höchst problematisch und würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zu gefährlichen Spannungen oder gar einem Konflikt mit Moskau führen.
Zudem wäre eine klare Ausrichtung auf die USA oder die EU-Staaten für Kasachstan kontraproduktiv, da große Teile der kasachischen Gesellschaft – Russen und andere russischsprachige Ethnien machen heute mehr als vier Millionen, also 25 Prozent der Bevölkerung aus – nach wie vor zu Russland und dessen Einflussbereich tendieren. Darüber hinaus ist Kasachstan in vielen staatlichen Kernbereichen, wie etwa der Sicherheitspolitik und der Wirtschaft, sehr eng mit Russland verbunden.
Kasachstans Ausrichtung auf Russland
Zuerst einmal ist anzumerken, dass fast alle Handels- und Transportrouten, die Kasachstan eine breite wirtschaftliche Zusammenarbeit mit anderen Ländern ermöglichen, durch russisches Territorium führen. Auch etwa 80 Prozent der kasachischen Erdölausfuhren werden auf diesen Routen transportiert. Die Alternativen dazu sind die südlichen Transportrouten durch andere zentralasiatische Ex-Sowjetrepubliken, die an das Krisenland Afghanistan grenzen, oder der Weg durch China und die transkaspische Handelsroute. Im Vergleich zu der russischen Option sind sie alle wirtschaftlich weniger rentabel.
Darüber hinaus ist Kasachstan heute Teil der von Moskau initiierten "Eurasischen Wirtschaftsunion" (EAWU) – eines Binnenmarktes mit einer Zollunion, dem als Mitglieder neben Russland und Kasachstan auch Weißrussland, Armenien und Kirgisistan angehören.
Im Sicherheitsbereich ist die Politik Kasachstans ebenfalls auf die Partnerschaft mit Russland ausgerichtet. Kasachstan ist ein Mitbegründer und somit bereits seit 30 Jahren Mitglied des Militärbündnisses "Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit" (OVKS), dem auch alle anderen EAWU-Staaten sowie Tadschikistan angehören.
Im vergangenen Januar hatte sich diese OVKS-Mitgliedschaft sogar als ein echter Glücksfall für Kasachstan erwiesen, nachdem die kasachische Führung nur mit Hilfe dieser Allianz nach blutigen Protesten wegen der Gaspreiserhöhung der Regierung wieder die Kontrolle über den Staat erlangen konnte. Denn als die Ausschreitungen in der ehemaligen Hauptstadt Almaty und anderen Landesteilen endgültig eskaliert waren, haben die OVKS-Partner umgehend mehrere Tausend Soldaten im Rahmen einer Friedensmission nach Kasachstan entsandt und trugen damit entscheidend dazu bei, die Lage wieder in den Griff zu bekommen und die konstitutionelle Ordnung wiederherzustellen. Offiziellen Angaben zufolge wurden bei den Unruhen mindestens 225 Menschen getötet, mehr als 2.000 wurden verletzt.
Laut dem Herausgeber der Asia Times, Pepe Escobar, waren in Kasachstan damals Destabilisierungsprozesse im Gange, hinter denen sich ein noch weitaus üblerer Putschversuch für einen Regimewechsel verbarg. Demnach sollen schätzungsweise 20.000 ausgebildete Terroristen (eingeschlossen ausländische Dschihadisten, andere radikale Gruppierungen sowie Vertreter des Organisierten Verbrechens in Kasachstan) in diese von ausländischen, vorwiegend westlichen Geheimdiensten gesteuerte Aktion involviert gewesen sein.
Distanzierung von Moskau
Umso so erstaunlicher ist es, dass die Führung in Nursultan auch diese Ereignisse heute nach einem halben Jahr ganz anders bewerten möchte und die positive Rolle von Russland in diesem Kontext verzerrt, obwohl doch gerade für die Russen die Stabilisierung eines auch für die russische Sicherheit und Wirtschaft lebenswichtigen Nachbarstaates eine Selbstverständlichkeit war und ist.
Nichtsdestotrotz soll Präsident Qassym-Schomart Toqajew nach Angaben des kasachischen Portals NUR diesbezüglich der russischen Seite vorgeworfen haben, die Januar-Ereignisse fälschlicherweise so darzustellen, als ob Russland Kasachstan damals gerettet hätte und Kasachstan seinem Nachbarn "deswegen nun für immer dienen" müsste. "Ich denke, dass dies eine völlig ungerechtfertigte Argumentation ist, die weit von der Realität entfernt ist", so Toqajew.
Auch bei anderen wichtigen Aspekten der Weltpolitik vertritt der kasachische Staatschef neuerdings eine Position, die sich deutlich von der Haltung Russlands unterscheidet. Zum Beispiel gilt das für den Ukraine-Konflikt und die antirussische Sanktionspolitik des Westens.
So hat Toqajew auf dem Internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg Ende Juni, bei dem er als Ehrengast seines russischen Amtskollegen Wladimir Putin auf dem Podium vertreten war, unmissverständlich klar gemacht, dass sein Land die gegen Russland verhängten Sanktionen befolgen werde.
Der Nachrichtenagentur RBC zufolge hat Toqajew ferner seine negative Haltung bezüglich der Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk durch Moskau offen zum Ausdruck gebracht, ohne jedoch die russische Militäroperation explizit zu bewerten. Toqajew erkannte zwar das UN-Recht auf Selbstbestimmung an, favorisierte aber dennoch das Prinzip der territorialen Unversehrtheit und verwies darauf, dass Nursultan deshalb auch Taiwan, Kosovo, Abchasien oder Südossetien als selbstständige Staaten nicht anerkenne. "Und dieses Prinzip gilt offensichtlich auch für solche quasistaatlichen Gebiete, wie Donezk und Lugansk es sind", erklärte Toqajew und musste dafür viel Kritik vonseiten der Russen hinnehmen, die ihm vorwerfen, sich gegenüber dem Donbass respektlos zu verhalten.
Der aus Sicht des Kremls bestimmt weitaus größere Affront ist jedoch der Umstand, dass sich der kasachische Präsident damit deutlich von Putin distanziert, indem er sich mit seiner Rhetorik in einen klaren Gegensatz zum Vorgehen Russlands begibt, das die beiden Volksrepubliken anerkannt hat und die eigene Intervention in der Ukraine mit deren Verteidigung begründet.
Auch wenn Toqajew betont hat, er sei doch für Meinungsvielfalt und stehe allen Ansichten offen gegenüber, so kann man trotzdem nicht übersehen, dass einer der engsten russischen Verbündeten in einer für die Russen derart lebenswichtigen Angelegenheit wie der seit über acht Jahre andauernden Tragödie in der Ukraine nicht vollständig hinter der Politik in Moskau steht.
Teil 2 finden Sie hier.
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