Russlands Triumph? Der neue Status quo im Südkaukasus nach Ende des Konfliktes um Bergkarabach

Die Welt schaute über sechs Wochen zu, wie Aserbaidschan die Gebiete rund um und in Bergkarabach mit seiner Offensive zurückeroberte. Doch das Ende des Krieges kam ebenso überraschend wie auch dessen Beginn. Nun schickt Russland Friedenstruppen in die Region.

von Wladislaw Sankin

Das Ende des zweiten Bergkarabach-Krieges, das mit dem Friedenspakt vom 9. November erzielt wurde, kam nur auf den ersten Blick überraschend. Denn nur wenige Stunden, nachdem Wladimir Putin, Ilcham Alijew und Nikol Paschinjan das Dokument unterschrieben hatten, landeten bereits die ersten Soldaten der russischen Friedenstruppen auf einem armenischen Flugplatz, um dann auf dem Landweg in das Kampfgebiet zu gelangen.

Diese schnelle logistische Leistung spricht dafür, dass russische Truppenkontingente in Einsatzbereitschaft standen und nur auf den Marschbefehl warteten. Der russische Einsatz lag also schon länger als Option auf dem Verhandlungstisch, genauso wie die Rückgabe der aserbaidschanischen Gebiete außerhalb der Grenzen des einstigen sowjetischen Autonomen Gebiets Bergkarabach an die Republik Aserbaidschan.

In der einen oder anderen Form wurde diese Formel seit Ende der 1990er-Jahre im Rahmen der internationalen Verhandlungsformate zur Regulierung des Konflikts diskutiert. Die Gebiete außerhalb von Bergkarabach dienten für die nicht anerkannte Republik und ihre Schutzmacht Armenien als Sicherheitszone und Faustpfand bei den Verhandlungen mit Aserbaidschan. Sie im Zuge von Verhandlungen an Aserbaidschan abzugeben – selbst im Austausch für diplomatische Vorteile, beispielsweise in der Frage nach dem Status von Bergkarabach –, schien für die armenische Seite lange Zeit unmöglich.

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Psychologisch war das die Folge des Sieges im ersten Karabach-Krieg, als die Kämpfer der Karabach-Armee mit Unterstützung aus Armenien die Aserbaidschaner nicht nur aus Bergkarabach vertrieben, sondern auch Teile Aserbaidschans eroberten. Wie auch vor knapp 30 Jahren hielten die Armenier die gegnerischen Aserbaidschaner offenbar für schlechtere Kämpfer und hatten zu wenig Angst vor einer Gegenoffensive.

Im ersten Karabach-Krieg fügten sie den Aserbaidschanern schmerzhafte Verluste zu. Alle Berechnungen der Kriegsopfer des damaligen Krieges, der von 1991 bis 1994 mehr als drei Jahre dauerte, kamen auf eine größere Opferzahl auf der aserbaidschanischen Seite. Nach den konservativsten Schätzungen verloren mindestens 6.000 Armenier und 10.500 Aserbaidschaner ihr Leben. Gemessen am Armeekontingent, das an den Kampfhandlungen auf beiden Seiten beteiligt war, sind solche Verluste durchaus mit den Verlusten der deutschen Wehrmacht und der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg vergleichbar.

War die Niederlage vermeidbar? 

Laut dem armenischen Regierungschef Paschinjan konnte der "schlechte Frieden", der in Moskau ausgehandelt wurde, nur nach einem Kampf ausgehandelt werden. Die Abgabe der aserbaidschanischen Gebiete auf diplomatischem Weg kam für ihn nicht nur vor, sondern auch nach Beginn des Krieges nicht infrage. Damit drückte er auch die Stimmung in großen Teilen der armenischen Bevölkerung aus. Diesmal wurde aber der bewaffnete Kampf verloren. Warum?

Dafür gibt es mehrere Gründe – und das sind nicht nur die Fehleinschätzungen des Gegners durch Armenien, der in der Zwischenzeit seine Armee zusammen mit den türkischen Verbündeten trainierte und mit neuer Kriegstechnik umrüstete. Es waren auch diplomatische Fehleinschätzungen. Armenien, das sein politisches System auf dem westlichen Modell einer parlamentarischen Demokratie errichtete, hoffte im Laufe der Jahre immer mehr auf die Unterstützung des Westens – vor allem der USA und Frankreichs mit ihrer jeweiligen armenischen Diaspora.

Grundsätzlich hatte Armenien aufgrund seiner alten christlichen Kultur, seiner tausendjährigen Geschichte und seines leidvollen Schicksals im Ersten Weltkrieg im Westen ein besseres Image als das muslimisch geprägte Aserbaidschan. Bis heute hält sich die Republik Armenien jedoch mit einer offiziellen Anerkennung Bergkarabachs zurück, denn dieser Alleingang könnte die Position und das Image Armeniens international beeinträchtigen. Aserbaidschan signalisierte auch seinerseits stets, dass die Anerkennung Bergkarabachs eine "rote Linie" darstelle. Trotz vieler Anzeichen dafür hielt die armenische Außenpolitik auch noch kurz vor dem Krieg ein massives Eingreifen der Türkei in den Konflikt für wenig wahrscheinlich. "Das würde die Welt zu sehr an das türkische Genozid an Armeniern erinnern", meinte die Fraktionschefin der Regierungspartei noch im Juli. 

Erschwerend hinzu kam auch die Verschlechterung der Beziehungen zu Russland, die nach der "Samtenen Revolution" Anfang 2018 einsetzte. Diese "Revolution" brachte den jetzigen prowestlichen Regierungschef, den Ex-Journalisten Nikol Paschinjan, an die Macht. Die militärische Zusammenarbeit mit Russland wurde eingeschränkt, infolgedessen blieb die Armee Bergkarabachs ohne moderne Luftabwehr und verlor auch deshalb den Drohnenkrieg gegen die Aserbaidschaner.

Im Unterschied zum ersten Krieg um Bergkarabach verzichtete die armenische Regierung diesmal trotz Ankündigung auf eine totale Mobilisierung im Land und schickte nur freiwillige Kampfgruppen zur Unterstützung Bergkarabachs. Der Eingriff der regulären Armee unterblieb jedoch. Die Folge war die Zerschlagung der maximal 20.000 Mann starken Armee der nicht anerkannten "Republik Arzach" mit knapp 147.000 Einwohnern durch einen weit stärkeren Gegner.

Russland – als Armeniens Verbündeter in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) – durfte und wollte in diesen Konflikt nicht eingreifen, weil der Krieg nicht auf dem Territorium Armeniens stattfand. Zumal man in Moskau ohnehin kein Interesse an einem militärischen Konflikt mit Aserbaidschan hatte, zu dem Russland ja ebenfalls sehr gute Beziehungen pflegt. Die langjährigen Staatschefs beider Länder, Wladimir Putin und Alijew, die einander seit mindestens zwei Jahrzehnten kennen, zeigen sich gerne in der Öffentlichkeit wie gute Freunde. 

Jetzt steht die Regierung in Jerewan vor einem Scherbenhaufen. In nur sechs Wochen des Krieges verloren aufseiten Bergkarabachs über 1.300 Kämpfer und ca. 50 Zivilisten ihr Leben. Angesichts solcher Verluste musste nun ein Abkommen zu viel schlechteren Bedingungen abgeschlossenen werden, als dies noch vor dem Krieg möglich gewesen wäre. Bergkarabach, das von Armenien als heilige Stätte ihres kulturellen und staatlichen Ursprungs angesehen wird, verlor nun bis zu 40 Prozent seines Stammgebietes, darunter die militärstrategisch sehr wichtige Stadt Schuscha (armenisch: Schuschi). Die von den Karabach-Kräften besetzten aserbaidschanischen Gebiete gehen infolge des Abkommens an Aserbaidschan zurück, darunter das weitläufige Gebiet zwischen Armenien und Bergkarabach sowie Pufferzonen südlich und östlich von Bergkarabach. Nun sorgt nur der von russischen FSB-Grenztruppen kontrollierter fünf Kilometer schmale Latschin-Korridor als Landverbindung zwischen Armenien und Bergkarabach. Laut dem Abkommen bekommt Aserbaidschan auch einen sicheren Transportweg durch Armenien, der die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan mit dem restlichen Aserbaidschan verbindet.

Nach Einschätzung von Militärexperten konnten die Aserbaidschaner nach dem Fall von Schuscha auch den Rest des umkämpften Gebietes innerhalb von wenigen Tagen zurückerobern. Nun stehen die russischen Friedenstruppen ihnen aber im Weg. Trotzdem wertet der aserbaidschanische Präsident Alijew den Ausgang des Krieges als großen Erfolg. Die Ziele, die Aserbaidschan mit dieser Offensive verfolgte, seien erreicht worden.  

Auch auf der persönlichen Ebene zeigt Alijew Genugtuung. Schuscha, als Panahabad die ehemalige Hauptstadt vom Khanat Karabach und wichtiges Wahrzeichen für beide Konfliktpartner, hatten Armenier am 9. Mai 1992 eingenommen. Am 9. Mai 2019 kam Premier Paschinjan nach Schuscha und tanzte während der Feierlichkeiten aus Anlass des 27. Jahrestages der Einnahme der Stadt. Das löste in Baku Empörung aus. 

Jetzt, nachdem Aserbaidschan die Stadt zurückerobert hatte, erinnerte der aserbaidschanische Präsident höhnisch an diesen Tanz und sagte russischen Journalisten: "Als Paschinjan in Schuscha im Alkoholrausch tanzte, hat er schon damals vorgezeichnet, was heute geschah."

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Russland und die Türkei erzielen eine Einigung

Am 10. November trafen die ersten russischen Soldaten eines fast 2.000 Mann starken Kontingents in Bergkarabach und damit völkerrechtlich auf dem Territorium Aserbaidschans ein – zum ersten Mal in den Jahrzehnten nach dem Zerfall der Sowjetunion. Damit konnte Russland seinen verlorenen Einfluss im Südkaukasus ein Stück weit zurückgewinnen. Viele in Russland sprechen sogar von dem Triumph der russischen Diplomatie, die in der Lage war, nicht nur den verlustreichen Krieg zu beenden, sondern im Einvernehmen mit beiden Konfliktparteien seine zusätzliche militärische Präsenz in der Region zu sichern – möglicherweise sogar auf Jahrzehnte.

Das von den Staats- und Regierungschefs Russlands, Aserbaidschans und Armeniens unterzeichnete Abkommen kann als historisch bezeichnet werden. Dieses Dokument gibt bereits die Richtung für eine friedliche Lösung eines sehr schwierigen Konflikts vor. Ich betone, dass keine weiteren Parteien – die Türkei, die USA und Europa – tatsächlich an der Unterzeichnung teilgenommen haben", sagte der russische Politikwissenschaftler Igor Kefeli.

Und was ist mit der Türkei? Aserbaidschan kämpfte nicht nur mit türkischen Drohnen, die man ganz legal auf dem Waffenmarkt kaufen kann. Seit Jahren wirken in Aserbaidschan türkische Militärberater mit. Die Türkei verfrachtete auch Söldner von den türkisch kontrollierten Gebieten in Syrien nach Aserbaidschan, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan unterstützte seinen Verbündeten massiv mit Kriegsrhetorik, insbesondere in der ersten Kriegsphase.

Nun bleibt er außen vor. Erdoğan wirkte rechtfertigend, als er vor Journalisten sagte: "Wie auch immer Russland da ist, unsere Beobachtungs- und Monitoring-Gruppen werden dort auch sein." Damit meinte er gemeinsame russisch-türkische Beobachtungszentren, die außerhalb des Territoriums von Bergkarabach errichtet werden. Kremlsprecher Dmitri Peskow betonte, dass "der Bereich der Zusammenarbeit mit der Türkei auf dem Territorium Aserbaidschans und nicht in Bergkarabach liegt".  

Neue Trennungslinien in der Region um Bergkarabach und Positionen der russischen Friedenstruppen:

Laut dem Politwissenschaftler Rostislaw Ischtschenko ist dies keineswegs ein Gewinn für die Türkei, weil das türkische Militär ja ohnehin in Aserbaidschan anwesend sei. Nun bekomme Russland auch noch die Möglichkeit, deren Tätigkeit auf dem Territorium dieses Landes aus nächster Nähe zu beobachten.

Russland ist global in sehr viele bilaterale, regionale und internationale diplomatische Formate eingebunden. Mit der Türkei unterhält es eine komplizierte Beziehung eines "Feintunings". Nun wird es – wie in Syrien – auch in Aserbaidschan eine russisch-türkische Militärmission geben. Das ist vonseiten Russlands einerseits die Anerkennung der Tatsachen, dass die Türkei in Aserbaidschan mittlerweile über erheblichen Einfluss verfügt. Andererseits ist es aber auch der Versuch, eine bessere Kontrolle über die türkische Aktivität zu erlangen und eventuell auch eine zusätzliche diplomatische Plattform für Besprechung der Angelegenheiten auf dem Kaukasus zu errichten. Russland ist nach wie vor am Ausbau der logistischen Achse in die südlichen Teile Eurasiens unter Beteiligung Aserbaidschans und des Iran interessiert. Es war kein Zufall, dass die Entwicklung der Transport- und Transitwege sowie die Wiederbelebung der wirtschaftlichen Aktivität "in der Region" auch einer der Punkte des Moskauer Waffenstillstandsabkommens war.

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