von Maria Müller
Jetzt bietet man als Geste der Versöhnung den Opfern Entschädigungen an. Ein neues Dekret der selbsternannten de-facto-Übergangspräsidentin Jeanine Añez soll mit einer einmaligen Geldzahlung an die Familien von Schwerverletzten oder Getöteten alle Probleme aus dem Weg schaffen.
Geld zum Tausch gegen Rechtsverzicht
Verwundete und Angehörige der Ermordeten haben diesen "Obersten Erlass Nr. 4100" jedoch entschieden zurückgewiesen. Er sei ein Erpressungsversuch, um Straflosigkeit mit Geld zu erkaufen. Man fühle sich erniedrigt und diskriminiert.
Für die Regierung hat das Leben einen Billigpreis: 50.000 Bolivar [etwa 6.500 Euro]”, empörten sich die Betroffenen.
Nach offiziellen Angaben wurden 29 Menschen getötet und 714 im ganzen Land verletzt. In den meisten Fälle hat man Schusswunden registriert.
Der Beauftragte für Menschenrechtsfragen der Stadt El Alto, David Inca, erläuterte vor der Presse:
In dem Erlass gibt es einen Artikel, der uns alarmiert. Dort heißt es, dass niemand das Recht hat, vor nationalen und internationalen Gerichten Anzeige zu erstatten, wenn er die 50.000 Bolivar Entschädigung akzeptiert!
Verurteilung der Mörder gefordert
Die Opferfamilien fordern, dass die Mörder ihrer Angehörigen von Strafgerichten verurteilt werden. Außerdem wollen sie umfangreichere Entschädigungen. Eine Gruppe in El Alto erklärte, sie werde sich direkt an die UNO mit der Bitte um deren Vermittlung wenden, damit sie auf Verhandlungen zwischen der de-facto-Regierung, den Verletzten und Familien von Gefallenen hinwirkt.
Die Fussangel in dem Entschädigungserlass lässt aufhorchen. Denn damit widerspricht Jeanine Añez ihrem eigenen Diskurs. Das Regime behauptete bisher, Untersuchungen hätten bewiesen, dass keine einzige Kugel aus den Waffen der Polizei oder des Militärs stammte. Vielmehr seien die Schüsse von "terroristischen Gruppen" abgefeuert worden in der Absicht, damit den gesellschaftlichen "Frieden" zu zerstören und die neue Regierung von Añez für die Toten und Verletzten verantwortlich zu machen.
Warum fürchten die Putschisten dann die Klagen der Opfer vor nationalen und internationalen Gerichten? Ein indirektes Schuldeingeständnis?
Ferngesteuerter Aufstand?
Das Narrativ des Regimes dreht die Ereignisse seit den Wahlen am 20. Oktober einfach um. Nicht die gewalttätigen Banden der rassistischen "Bürgerkomitees" des Fernando Camacho setzten Wahlzentren in einigen Provinzen in Brand, um Wahlurnen zu zerstören, stürmten die Häuser von Abgeordneten und Regierungsvertretern, entführten deren Familien als Geiseln oder zerstörten das Privathaus des Präsidenten Morales und das seiner Schwester. Nein, das waren "ausländische Narco-Terroristen", die das "friedliche Zusammenleben" in Bolivien untergraben wollen, erklärte Añez.
Ein Wink mit dem Zaunpfahl: niemand sollte sich wundern, wenn in den kommenden Tagen venezolanische Migranten beschuldigt werden, sie seien die wahren Urheber der blutigen Unruhen – ferngesteuert aus Venezuela.
Man braucht nun einen äußeren Feind, um die inneren Gründe – den Widerstand gegen einen rechtsextremen Putsch – im öffentlichen Bewusstsein zu vernebeln und zu verwischen. Schließlich wollen die neuen Machthaber die kommenden Wahlen gewinnen und müssen dafür die Lage in Bolivien zu ihren Gunsten verbessern. Auch interne Differenzen zwischen Polizei und Militär drängen auf ein Ende der bisherigen Vorgehensweise.
Putschisten müssen die Spaltung Boliviens vermeiden
Die Putschisten haben aus ihren anfänglichen Fehlern gelernt. Sie hatten zu Beginn des Umsturzes die Fahnen und Symbole des Vielvölkerstaates Boliviens und seiner indigenen Nationen aus den öffentlichen Gebäuden entfernt, von den Uniformen gerissen, zertrampelt oder öffentlich verbrannt. Der rassistische Mob, Militärs und Polizisten verkündeten, es gäbe nur eine einzige Nation in Bolivien. Sie schwenkten allein die traditionelle Nationalfahne.
Das empfand die indigene Mehrheit (62 Prozent) des Landes als einen direkten Angriff auf sich selbst, auf ihre Autonomie und ihre unter Evo Morales anerkannten sozialen, kulturellen und politischen Rechte. Entsprechend verzweifelt war die Reaktion dieses Teils der Bevölkerung nach dem Putsch.
Man marschierte in den ersten Tagen aus allen Landesteilen nach der Hauptstadt La Paz und blockierte die Zufahrtsstraßen für die Millionenstadt, um das Putschregime zum Rücktritt zu zwingen. Denn dort befindet sich nicht nur der Regierungssitz, sondern eine mehrheitlich weiße Bevölkerung, die den Regime-Change unterstützt. Sie hat die Umgestaltung Boliviens zu einem Plurinationalen Staat, in dem die von ihnen verachteten "Indios" gleichberechtigt anerkannt sind und in die Mittelschicht aufsteigen können, nie akzeptiert.
Der brutale militärische und polizeiliche Vormarsch gegen den indigenen Aufstand produzierte in den ersten Tagen die meisten Toten. Doch der Widerstand ging weiter und konnte so nicht besiegt werden. Nun setzt das Regime auf politische Spaltung, macht kleinere Zugeständnisse und hisst wieder die indigene Wiphala-Fahne – selbst auf Militärpanzern und Polizeifahrzeugen, die auf den Straßen patrouillieren.
Die geräuschlose Verfolgung Oppositioneller
Im Vordergrund steht nun die weniger Aufsehen erregende individuelle Verfolgung von Politikern der MAS-Partei des Evo Morales, von Gewerkschaftern, sozialen Anführern und Gegnern des Putschregimes. Mehrere per Haftbefehl gesuchte, kritische Journalisten mussten das Land verlassen. In den drei Monaten bis zur Neuwahl sollen potenzielle linke Kandidaten für Staatsämter und das Parlament möglichst ausgeschaltet werden – um ungestört "freie, saubere, demokratische Wahlen" abhalten zu können.
Añez regiert nach wie vor unter Ausschluss des Parlaments. Denn dort hat die MAS-Partei des gestürzten Evo Morales in beiden Kammern eine Zwei-Drittel-Mehrheit.
Am 30. November verkündete Jeanine Añez einen Regierungserlass, mit dem Sondereinheiten des Geheimdienstes und der Polizei in allen Provinzen Boliviens aktiviert werden. Ihre Aufgabe bestehe darin,
verbrecherische und subversive Aktivitäten abzuwehren und zu neutralisieren, die versuchen, den Frieden im Land zu zerstören”, so Añez.
Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen
Bereits zuvor, am 15. November, unterzeichnete das neue Regime einen besonders brisanten Erlass, mit dem die Straflosigkeit ihrer Repressionstruppen abgesichert werden sollte. Doch das Vorhaben stieß im In- und Ausland auf großen Widerstand.
Die Interamerikanische Menschenrechtsorganisation kritisierte den Erlass scharf, mit dem Polizisten und Militärs von gerichtlichen Verurteilungen befreit werden sollen – wenn sie "aus Selbstverteidigung oder aus angemessener Notwendigkeit handeln". Auf Twitter erklärte die Organisation,
Die schwerwiegende Verordnung missachtet die internationalen Standards der Menschenrechte. Ihr Text provoziert die gewaltsame Repression.
Solche Verordnungen arbeiten gegen die Verpflichtung der Staaten, die Verletzungen der Menschenrechte zu untersuchen, vor Gericht zu bringen und zu bestrafen.
Die Präsidentin musste ihren Vorstoß rückgängig machen. Deshalb jetzt der Versuch, die Opfer und ihr Leiden einzukaufen, um auf diesem Umweg Straflosigkeit für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu erreichen.
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