von Maria Müller
In dem südamerikanischen Land brach am 18. Oktober eine Volkserhebung von bisher ungekanntem Ausmaß los. Chile kommt bis heute nicht zur Ruhe – weshalb Präsident Sebastián Piñera am Mittwoch die für Anfang Dezember anberaumte Weltklimakonferenz abgesagt hat, die in der Hauptstadt Santiago de Chile stattfinden sollte.
Auslöser der Proteste war eine von Piñera erlassene Benzinpreiserhöhung. Doch der Hintergrund ist das von Diktator Augusto Pinochet eingesetzte, ungebrochen gültige System, das die sozialen Rechte der Bevölkerung auf ein Minimum zurückgeschraubt hat und ihre Grundbedürfnisse verachtet.
Keine der Regierungsparteien hat jemals an den von der Diktatur festgeschriebenen Privilegien der extrem reichen Eliten auf Kosten von weiten Teilen der extrem armen Bevölkerung gerüttelt. Die Preiserhöhung brachte das Fass zum Überlaufen und verursachte eine der größten sozialen Krisen in der Geschichte Chiles.
In der Hauptstadt Santiago de Chile, aber auch in großen und mittleren Städten wie Antofagasta, Valparaíso, Viña del Mar, Copiapó, Concepción, Chillán, Temuco und Punta Arenas kam es zu massenhaften Demonstrationen. Allein am 23. Oktober fanden im ganzen Land 68 überwiegend friedliche Mobilisierungen statt, an denen sich 464.000 Personen beteiligten. An diesem Tag hatte der zweitägige Generalstreik begonnen, der auch am Donnerstag erfolgreich durchgeführt wurde.
Bis jetzt fehlen den Protesten politische Führungsfiguren. Niemand ist an ihrer Spitze auszumachen, der das Ganze dirigieren würde. Die Menschen mobilisieren sich selbst mittels der sozialen Netzwerke über Handy. Das breite soziale Spektrum reicht von der unteren bis zur oberen Mittelklasse, Jugendliche, Studenten, Rentner, Eltern mit ihren Kindern, Arbeiter, Künstler, Schriftsteller, Patienten, medizinisches Personal, die intersexuelle Bewegung. Auch die Mapuche-Indianer sind dabei, deren Fahne sehr häufig unter den Demonstranten zu sehen ist. Offenbar gilt diese Indigenen-Nation im Süden Chiles als Beispiel für zähen und langatmigen Widerstand.
Sehr schnell wurden erste Forderungen und kritische Themen genannt. Darunter die hohen Lebenshaltungskosten (Santiago ist die zweitteuerste Stadt in Lateinamerika), die niedrigen Renten, die teuren Medikamente und hohen Kosten für eine ärztliche Versorgung. Außerdem herrscht eine generelle Wut auf die gesamte politische Klasse. Es gibt kein Vertrauen mehr in die staatlichen Institutionen.
Präsident Sebastián Piñera und sein Kabinett haben mit einer so überwältigenden Situation nicht gerechnet. Er reagierte mit härtester Repression und rief am 19. Oktober den Ausnahmezustand aus, nachts herrschte ab 20.00 Uhr Ausgangssperre. Die Polizei selbst half dabei mit, Vorwände für eine solch schwerwiegende Maßnahme zu schaffen, die es seit der Diktatur in Chile nicht mehr gegeben hat.
Laut Augenzeugen und Videoaufnahmen haben Soldaten dafür eigenhändig Barrikaden errichtet und angezündet, Gummireifen zum Verbrennen auf Lastwagen transportiert und abgeladen, einen Supermarkt geplündert und angezündet, eine Bank in Brand gesetzt, Fernseher aus einem Geschäft geraubt und in Dienstautos abtransportiert und vieles mehr. Sie sollen auch an der Zerstörung von Metro-Stationen beteiligt gewesen sein. Inzwischen hat der Staatsanwalt Héctor Barros festgestellt:
In mehreren Fällen wurden Brände in den nicht öffentlich zugänglichen Elektrizitätszentralen gelegt, die die Züge mit Strom versorgen.
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Mehrere Großbrände brachen in U-Bahn-Stationen aus, obwohl sie seit dem 19.10. bereits geschlossen waren und von Sicherheitskräften bewacht wurden. Große Teile der Bevölkerung benötigen die Metro, um zur Arbeit zu gelangen. Die außergewöhnliche Randale diente dann Piñera als Vorwand dafür, die Militärs auf die Bürger zu hetzen. In einer Rede erklärte er:
Wir befinden uns im Kriegszustand gegen den gefährlichsten aller Feinde – den inneren Feind!
Er griff damit in die Mottenkiste der Geschichte – dieses Konzept diente den Diktaturen der 70er- und 80er-Jahre in Lateinamerika als Vorwand für den Einsatz des Militärs gegen die eigenen Bürger, die es eigentlich schützen müsste.
Nun stürmten 10.000 Soldaten die chilenische Hauptstadt, töteten, verletzten, verhafteten, vergewaltigten und ließen verschwinden. Die Bilanz besteht nach neuesten Daten aus 42 Toten, 3.193 Verhafteten, 20 Verschwundenen, 17 vergewaltigten Frauen und 1.092 zum Teil schwer Verletzten (Nationales Institut für Menschenrechte, Constanza Schonhaut). Zahlreiche Verhaftete wurden gefoltert. Es gibt über hundert verletzte Polizisten. Piñera hat 17 Tote offiziell anerkannt. Das Menschenrechtsinstitut stellte 88 Anzeigen gegen den Staat.
Die Militärs waren allgegenwärtig Tag und Nacht auf den Straßen, ließen harmlose Passanten unter Stockhieben Spießruten laufen, sprühten wild mit Pfefferspray auf die Leute oder fegten die Straßen mit der Wucht der Wasserwerfer frei. Sie drangen willkürlich in Häuser ein und verhafteten mit vorgehaltenem Gewehr, wer ihnen in die Quere kam. Gaskartuschen warfen sie in die Menschenmenge, egal, ob sich darunter Alte, Kranke oder Kinder befanden.
Bárbara Figueroa, Präsidentin des mächtigen Gewerkschaftsdachverbandes "Vereinte Arbeiterzentrale" (CUT), sagte gegenüber Journalisten:
Das Einzige, was Piñera bis heute zustande brachte, ist, das Land zu spalten und die Spannungen zu erhöhen. Heute sehen wir auf den Straßen junge Männer, die mit einem Gewehr auf die eigenen Landsleute zielen.
Doch diesmal haben die Menschen die Angst verloren. Trotz der Ausgangssperre und der militärischen Präsenz hat die Bevölkerung beschlossen, die Armee und die Polizei herauszufordern. Riesige Kundgebungen auf den Plätzen, Streikposten an den Ecken, Töpfeschlagen und Straßenkonzerte, auf denen Hunderte die Lieder des chilenischen Widerstandssängers Victor Jara oder des Venezolaners Alí Primera anstimmen.
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Es gab zahlreiche gewaltsame Auseinandersetzungen mit Militär und Polizei, die mit Steinhagel oder Brandflaschen attackiert wurden. In den Zentren, aber auch in Randbezirken wurden Barrikaden aufgetürmt und Gebäude in Brand gesetzt, vor allem solche aus der Finanz- und Wirtschaftswelt. Man protestiert gegen deren Politik des permanenten Missbrauchs, gegen den schlecht funktionierenden öffentlichen Dienst, das privatisierte Gesundheits- und Bildungswesen, das man zu "kaufen" gezwungen ist. Es geht gegen die Wucherkredite, die hohen Transportkosten und schlechten Verkehrsmittel.
Bei fast allen Aktivitäten der Chilenen lauert die korporative Macht, die die Menschen um ihre Mühen und Arbeit bringt", erklärte ein Demonstrant den anwesenden Journalisten.
Die Mehrheit der Chilenen lebt mit einem häufig unbezahlbaren Schuldenberg. Von den Akademikern, die mit zehntausenden Dollars ihr Studium finanzieren müssen, den Rentnern, die monatlich Geld leihen, um nicht zu verhungern, bis hin zu den Familien, deren Gehälter so niedrig sind, dass sie kaum die Schulden vom Vormonat bezahlen können. Die überhöhten Zinsen und Strafen seitens der privaten Kleinkreditfirmen machen das Ganze zum Alptraum. Auch das erklärt die soziale Explosion.
Am 22. Oktober, einen Tag vor dem Generalstreik, hatte Präsident Piñera einige Zugeständnisse an die Bevölkerung verkündet. Er hoffte, damit die Ruhe wiederherzustellen.
Die Niedrigrenten sollten um 20 Prozent erhöht, Steuern für Rentner reduziert und ein subventioniertes Mindesteinkommen für Arbeiter garantiert werden. Man wolle die Erhöhung des Stromtarifs um 9,2 Prozent zurücknehmen. Außerdem die Unternehmen und Großverdiener zusätzlich besteuern. Gleichzeitig würde die Zahl der Parlamentarier verringert, ihre Bezüge genauso gekürzt wie die hohen Beamtengehälter.
Eine Versicherung für hohe Medikamenten- und Arztkosten solle eingeführt werden, denn in Chile sterben viele Menschen wegen medizinischer Unterversorgung. Kinderkrippen für Familien mit arbeitenden Eltern sollen eingerichtet werden, Rechtsschutz und Betreuung für die Opfer von Verbrechen. Man will nun die öffentlichen Mittel besser zwischen armen und reichen Kommunen verteilten.
An diesem Tag bat der Präsident das chilenische Volk um Verzeihung, weil er es versäumt hatte, dessen miserable Lebensbedingungen "rechtzeitig zu erkennen".
Es ist wahr, dass sich die Probleme seit mehreren Jahrzehnten angehäuft haben und dass wir und die verschiedenen Regierungen unfähig waren, uns diese Situation in ihrem ganzen Umfang einzugestehen. Ich erkenne das an und bitte um Verzeihung für die fehlende Einsicht.
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Weite Teile der Bevölkerung empfingen die Ankündigungen Sebastián Piñeras mit Sorge und neuerlichen Bedenken. Jahrzehnte des Verrats und der Täuschungen haben in mehreren misshandelten Generationen ein tiefes Misstrauen hinterlassen.
An irgendeinem Punkt will er uns wieder täuschen. (…) Piñera will Zeit gewinnen, er erwartet, dass wir nach Hause gehen, ein reiner Schachzug", war die Reaktion in den sozialen Netzwerken.
Zwei Tage zuvor hatte Piñera noch den inneren "Kriegszustand" erklärt, den er auch nach seinen Versprechen und der Selbstkritik aufrechterhielt. Der Ausnahmezustand und die Ausgangssperre dauerten die ganze Woche bis zum Sonntag, dem 27.10., an. Schließlich nahm Piñera diese Maßnahme zurück, nicht ohne sich vorher bei der Armee für ihre "guten Dienste" zu bedanken.
Am vergangenen Freitag kam die Antwort "von unten". Hunderte blockierten die Zufahrtsstraßen der Hauptstadt Santiago. An diesem Tag legten 1,2 Millionen Menschen die Innenstadt lahm. "Die größte Demonstration seit Ende der Diktatur", stellte Federico Galende, Professor an der Universität in Santiago, fest. Immer mehr Menschen fordern inzwischen den Rücktritt des Multimillonärs Sebastián Piñera, dessen Popularität um 80 Prozent gesunken ist. Auch der Wunsch nach einer neuen, demokratischen Verfassung wird immer lauter, da die gegenwärtige Magna Charta seit der Diktatur unverändert gültig blieb.
Piñera verbraucht das Repertoire der bürgerlichen Regierungen Schritt für Schritt, um sich selbst an der Macht zu halten. Übers Wochenende wechselte er Teile seines Kabinetts aus, am Montag vereidigte er acht neue Minister, darunter die für Inneres, Wirtschaft und Finanzen.
Dieses Team hat die Aufgabe, zuzuhören und den Dialog für ein gerechteres Chile zu eröffnen", verkündigte er bei deren Vereidigung.
Piñera hatte in den Tagen zuvor vergeblich versucht, sich mit Vertretern der Opposition zu treffen. Diese wollten nicht hinter verschlossenen Türen verhandeln, solange die Regierung den öffenlichen sozialen Dialog verweigerte und die Militärs gegen die Bevölkerung einsetzte.
Manuel Monsalve, Abgeordneter der Kommunistischen Partei Chiles, erklärte:
Die Ereignisse in Chile sind schwerwiegend. Präsident Piñera kritisierte Nicolás Maduro für eine Repression, die seine eigene Regierung heute in den Straßen Chiles durchführt.
Tatsache ist, dass die verschiedenen Parteien, die seit Ende der Diktatur Pinochets regierten, ein sozial gnadenloses neoliberales Modell unangetastet fortsetzten, gegen alle immer wieder aufkommende millionenfache Proteste.
Die politische Klasse überließ die Wirtschaft 30 Jahre lang den Großkonzernen, den Investitions- und Spekulationsfirmen, die sie letztlich finanzierten. Sowohl die Christdemokraten unter Eduardo Frei als auch die Demokratische Union unter Ricardo Lagos und die Sozialisten unter Michelle Bachelet waren weder willens noch in der Lage, die großen Privatisierungen anzutasten. Ihre Antworten bestanden in verdeckter oder offener Repression und politischen Manövern, ihr Diskurs: Es gibt keine Alternative!
Bereits unter Lagos warnte die Weltbank in ihrem Bericht über Chile vor den Folgen der unkontrolliert liberalen Wirtschaft. Sie wies alarmiert auf die hohe Konzentration des Reichtums in wenigen Händen hin. Demnach ist Chile bis heute eines der Länder mit der größten sozialen Ungleichheit auf der Welt.
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