Erschossene Menschen, tote Kinder, Morddrohungen, gewaltsame Überfälle, verseuchte Lebensgrundlagen und neue Krankheiten – die Liste der kriminellen Ereignisse, die die indigenen Völker seit Amtsantritt Jair Bolsonaros und insbesondere seit der COVID-19-Pandemie beklagen, ist lang. In dieser Woche hat die Vereinigung der indigenen Völker Brasiliens (APIB) am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) Klage gegen die Regierung Bolsonaro wegen Völkermordes eingereicht.
Erstmals in der Geschichte wenden sich damit indigene Völker mit eigenen Anwälten direkt an den Gerichtshof in Den Haag. Sie fordern eine Untersuchung von Verbrechen, die der brasilianische Präsident Bolsonaro seit Januar 2019 an den Ureinwohnern des Landes begangenen hat, nachdem brasilianische Behörden sie nicht geschützt hatten.
"Wir kämpfen seit Hunderten von Jahren jeden Tag für unsere Existenz, und heute ist unser Kampf für unsere Rechte global. Die Lösungen für diese kranke Welt kommen von den indigenen Völkern, und wir werden angesichts der Gewalt, unter der wir leiden, niemals schweigen. Wir haben dieses Kommuniqué an den Internationalen Strafgerichtshof geschickt, weil wir es nicht versäumen können, die indigenenfeindliche Politik Bolsonaros anzuprangern. Er muss für all die Gewalt und die Zerstörung, die er anrichtet, bezahlen", so die Koordinatorin der APIB, Sônia Guajajara, am Montag.
"Wir glauben, dass in Brasilien Handlungen im Gange sind, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Ökozid darstellen", sagte Eloy Terena, der juristische Vertreter, in einer Erklärung am Montag.
Die Erklärung setzt sich aus mehreren Beschwerden indigener Organisationen, offiziellen Dokumenten, akademischen Untersuchungen und technischen Notizen zusammen, wonach die Regierung Bolsonaro systematisch eine vorsätzlich indigenenfeindliche Politik verfolgt.
Die APIB fordert nun vom IStGH eine Untersuchung wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Artikel 7, Abschnitt b), des Römisches Statuts (Ausrottung, Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen) und Völkermord nach Artikel 6, Abschnitte b) und c) des Römischen Statuts (Verursachung schwerer körperlicher und seelischer Schäden und vorsätzliche Herbeiführung von Bedingungen, die auf die Vernichtung eines Volkes abzielen).
Es ist nicht das erste Mal, dass indigene Völker Brasiliens Bolsonaro beschuldigen, ihr Volk und ihr Heimatland anzugreifen. Schon im November 2019 hatten das Collective of Advocacy on Human Rights (CADHu) und die Arns-Kommission den Vorwurf der Anstiftung zum Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erhoben. Im Januar reichte Häuptling Raoni Metuktire eine separate Klage beim Internationalen Strafgerichtshof ein, in der er das Gericht aufforderte, gegen Bolsonaro wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu ermitteln, da sich die Zerstörung des Amazonaswaldes unter seiner Regierung maßlos beschleunigt habe.
2019 und 2020 wurden nach Angaben des Nationalen Instituts für Weltraumforschung (INPE) mehr als 11.000 Quadratkilometer im Amazonasgebiet abgeholzt, etwa 70 Prozent mehr als die durchschnittliche Fläche, die in dem Jahrzehnt vor Bolsonaros Amtsantritt pro Jahr abgeholzt worden war. Untersuchungen haben ergeben, dass die Bergbauaktivitäten seit 2020 massiv zugenommen haben, mit einer 30-prozentigen Ausweitung der Umweltzerstörung in der Region, die eine Fläche von 2.400 Hektar umfasst. Etwa 20.000 illegale Goldschürfer sind auf dem Land der indigenen Volksgruppe der Yanomami tätig, was neben den schwerwiegenden ökologischen Auswirkungen zur Verbreitung von Krankheiten wie Malaria und COVID-19 führt. Laut Al Jazeera zeigen offizielle Zahlen, dass die Abholzung im brasilianischen Amazonasgebiet bis Juli dieses Jahres fast einen Rekordwert erreicht hat und eine Fläche von der Größe Puerto Ricos zerstört wurde.
Bei der aktuellen wie auch bei früheren Anklagen geht es um die fortschreitende, eskalierende Gewalt durch illegal in indigenes Land eindringende bewaffnete Bergleute, die von der Regierung Bolsonaro offenbar ermutigt werden.
Im Jahr 2019 war beispielsweise Paulo Paulino Guajajara erschossen worden, der als Mitglied der "Wächter des Waldes" angesichts der Übergriffe von Landräubern, Bergleuten und Holzfällern den Wald überwacht hatte. Durch das Vordringen der Bergleute werden außerdem zu den Indigenen, von denen bisher einige nicht in Kontakt mit diesen Teilen der brasilianischen Gesellschaft waren, Infektionskrankheiten wie COVID-19 und Malaria getragen, was – wie die Geschichte gezeigt hat – ganze Stämme auslöschen kann. Mit dem Abbau von Ressourcen werden außerdem die Flüsse und damit die Fische mit Schwermetallen verseucht, während die dort rechtmäßig lebenden Völker keinerlei Vorteile erzielen.
Vielmehr leben sie im Einklang mit der dortigen Natur, laut der Organisation Survival International und mehreren anderen schützen sie die Wälder, und sie sind für ihr Überleben auf die Fischerei angewiesen. Eine Untersuchung in mehreren Dörfern im vergangenen Jahr hat gezeigt, dass beispielsweise im Gebiet Sawré Muybu mehr als die Hälfte der Bewohner laut der Studie bedenklich hohe Quecksilberwerte in ihrem Blut hatte, gut 15 Prozent der Kinder zeigten Probleme bei neurologischen Entwicklungstests.
Zu Beginn dieses Jahres wandte sich die APIB an BlackRock, da es der weltweit größte Investor in Unternehmen ist, die an illegalen Abholzungsaktivitäten und der Verletzung der Rechte indigener Völker im brasilianischen Amazonasgebiet beteiligt sind, darunter Vale, der weltgrößte Fleischkonzern JBS, der britische Bergbaukonzern Anglo American, das sich wie auch BlackRock nach außen als Verfechter von Nachhaltigkeit präsentierende US-Handelsunternehmen Cargill und weitere.
Im Mai hatten auch UN-Experten ein Ende der Gewaltwelle gegen die Yanomami und Munduruku gefordert, nachdem frühere Beschwerden von mehreren Organisationen in Brasilien vorgetragen, doch rechtliche Schritte und Untersuchungen wurden durch das brasilianische Verteidigungsministerium gestoppt.
"Da die brasilianische Justiz nicht in der Lage ist, diese Handlungen zu untersuchen, zu verfolgen und zu verurteilen, klagen wir sie vor der internationalen Gemeinschaft und dem Internationalen Strafgerichtshof an", betonte auch Anwalt Terena.
Laut den Experten der UNO hatten Gruppen von Bergleuten unter anderem nach unbefugtem Betreten von Territorium einer Organisation, die sich für die Verteidigung indigenen Territoriums in der Region einsetzt, deren Räumlichkeiten und Dokumente zerstört und Feuer gelegt, auch wurden ihnen beispielsweise Kraftstoffe gestohlen und die Mitglieder mit verschiedenen anderen Einschüchterungsversuchen bedroht, unter anderem samt Morddrohungen. Von Angriffen bewaffneter Schürfer auf die Indigenen im Mai dieses Jahres waren mehrere Kinder betroffen, zwei kleine Kinder wurden danach tot aufgefunden. Bei einem weiteren Angriff wenige Tage später auf das Yanomami-Gebiet schossen die Bergleute nicht nur auf die dort Lebenden, sondern warfen zudem Gasbomben.
Auch die Experten der UNO sehen in den Vorwürfen – sollten diese nicht entkräftet werden – Verstöße gegen internationale Menschenrechtsnormen und -standards, einschließlich des Rechts auf Leben und Sicherheit, wie es in Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) festgehalten ist. Der Chefankläger des IStGH – seit Mitte Juni der britische Jurist Karim Ahmad Khan – muss nun entscheiden, ob er die Anschuldigungen der APIB gegen Bolsonaro weiterverfolgt.
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