von Kani Tuyala
Über Wochen und Monate schien es so, als seien die Einheiten der sogenannten Tigray Peoples Liberation Front (TPLF) drauf und dran, die Armee der äthiopischen Zentralregierung nicht nur in arge Bedrängnis zu bringen, sondern gar in die Hauptstadt Addis Abeba einzumarschieren.
Es waren vor allem die großen britischen und US-amerikanischen Nachrichtensender und Medienhäuser, die ein ums andere Mal dieses Szenario an die Wand malten bzw. beschworen. Immer wieder wussten die entsprechenden Medien zu berichten, dass die Tigray Defense Forces (TDF) und deren Verbündete nur noch wenige Kilometer von der Hauptstadt entfernt oder bereits an die Stadtgrenzen vorgerückt seien. Dabei konnte davon während der gesamten Zeit der militärischen Konfrontationen nicht ansatzweise die Rede sein.
Es war kaum möglich, das klammheimliche Wunschdenken zwischen den Zeilen nicht mitzulesen. Schließlich wurde die Regierung unter Dr. Abiy Ahmed gleichzeitig und geradezu unvermeidlich des "Genozids" an der Bevölkerung Tigrays beschuldigt.
Da spielte es auch so gut wie keine Rolle, dass eine einschlägige Untersuchung einen Völkermord keineswegs feststellen konnte. Ausgangspunkt der haltlosen Anschuldigungen waren dabei vor allem die Sprachrohre der TPLF selbst, die bereits unmittelbar nach Beginn der Kampfhandlungen Anfang November 2020 das Hashtag #genocide in die Welt setzten – für die einschlägig bekannten Verfechter von "Freiheit" und "Menschenrechten" zum eigenen Vorteil, der willkommene Anlass zur Dämonisierung der äthiopischen Regierung. Jetzt konnte es nur noch darum gehen, den ehemaligen Klienten der TPLF gutes Gelingen zu wünschen, bei ihrem Feldzug gegen den Tyrannen in Addis Abeba.
Und während in der äthiopischen Hauptstadt selbst Ruhe herrschte – was von Reportern, die sich die Mühe machten von vor Ort zu berichten, immer wieder bestätigt wurde – riefen westliche Regierungen und allen voran die US-Regierung ihre Mitbürger pausenlos dazu auf, die Millionenmetropole umgehend zu verlassen. Nach Ansicht lokaler Beobachter bestand die Absicht dieser Aktionen vor allem darin, für Unruhe, Unsicherheit und Chaos in der Bevölkerung selbst zu sorgen. Die Fiktion sollte zur Realität werden. Doch das Leben vor Ort ging weiter seinen geschäftigen Gang.
Zuvor hatte Washington bereits Anfang November 2021 einige Vertreter der TPLF als "Oppositionelle Fraktionen" empfangen. Deren Ziel: Der Sturz der Abiy-Regierung "durch Gewalt oder Verhandlungen, um dann eine Übergangsregierung zu bilden". "Bei einer Veranstaltung in Washington gab das Bündnis die Bildung der Vereinigten Front der äthiopischen föderalistischen und konföderalistischen Kräfte bekannt und erklärte, dass es ein Kommando zur Koordinierung der militärischen und politischen Bemühungen einrichten werde".
Parallel dazu tauchte dann ein Videomitschnitt eines Treffens hochrangiger ehemaliger und noch amtierender westlicher diplomatischer Würdenträger auf, in dem diese sich mit dem ehemaligen äthiopischen Außenminister und TPLF-Offiziellen Berhane Gebre-Christos über die Notwendigkeit austauschen, die äthiopische Regierung zur Verantwortung zu ziehen.
Die ehemalige US-Botschafterin Vicki Huddleston hatte im illustren Kreis der Diplomaten in Bezug auf die TPLF unter anderem Folgendes zu sagen:
"Ich hoffe, dass Sie bald einen militärischen Erfolg haben werden, denn die Situation wird immer dramatischer."
Bronwyn Bruton vom Afrika-Zentrum des Atlantic Council, reagierte auf das klandestine Video-Treffen mit den Worten: "Äußerst beunruhigende Aufnahme von hochrangigen US-Beamten, die ihren Wunsch nach einem militärischen Sieg der TPLF und der Einsetzung einer nicht gewählten Übergangsbehörde unter Führung der TPLF zum Ausdruck bringen. Es fällt schwer, diese zweistündige Diskussion als etwas Anderes zu deuten als die Zustimmung der USA zu einem Militärputsch". Gleichzeitig gab Washington vor, sich für Friedensverhandlungen einzusetzen und dabei keinerlei Partei zu ergreifen.
Vor diesem Hintergrund lässt sich nachvollziehen, warum die transatlantische Gemeinschaft – und wieder allen voran die US-Administration – vor allem die Regierung unter Ahmed Abiy vollkommen einseitig für die humanitäre Zuspitzung des Konflikts in die Verantwortung zog. Auch im Falle Äthiopiens wurden selbstverständlich Sanktionen auf den Weg gebracht, die zwar offiziell allen beteiligten Seiten angedroht wurden, sich aber letztendlich allein gegen Vertreter der äthiopischen Regierung und des mit Addis Abeba verbündeten Eritrea richteten. "Die USA haben sich weder für die Gräueltaten der Tigray-Truppen noch für den Diebstahl der von der UNO gesponserten Hilfsgüter durch die sich zurückziehende Tigray-Armee interessiert", hieß es dazu jüngst bei der Asia Times.
Und nun geschah etwas, das nicht ins konspiratorische und taktische Kalkül passte und alles auf den Kopf stellte. Abiy Ahmed kündigte an, sich selbst an die Front zu begeben und auf diese Weise seiner Verantwortung als Oberbefehlshaber der äthiopischen Armee nachzukommen. Der äthiopische Ministerpräsident hat u.a. den Rang eines Oberstleutnants in der Armee und kämpfte bereits im Zeitraum 1998-2000 im Grenzkrieg zwischen Äthiopien und Eritrea. In einer Erklärung teilte Abiy Ahmed mit:
"Ab morgen werde ich mich an die Front begeben, um die Verteidigungskräfte anzuführen. Diejenigen, die zu den äthiopischen Kindern gehören wollen, die in die Geschichte eingehen werden, sollten heute für ihr Land aufstehen. Wir treffen uns an der Front."
Spätestens seit dieser Ankündigung und dem dazugehörigen Aufruf begann sich das Blatt dramatisch zu Gunsten der Äthiopischen Nationalen Verteidigungskräfte (ENDF) zu wenden. Eine Stadt nach der anderen, die zuvor von den "Rebellen" in monatelangen Kämpfen erobert wurden, fielen binnen Wochen wieder unter die Kontrolle der ENDF. Nach Regierungsangaben von Montag gelang es den Verbänden nun auch, die strategisch wichtigen Städte Dessie und Kombolcha in der Amhara-Region zurückzuerobern. Zuvor war es den Regierungstruppen bereits gelungen unter anderem die historische Stadt Lalibela wieder unter eigene Kontrolle zu bringen.
An allen Fronten befindet sich die Einheiten der TPLF demzufolge auf dem Rückzug. Laut dem TPLF-Sprecher Getachew Reda soll es sich dabei jedoch vermeintlich um taktisches Kalkül handeln.
Von einer womöglich drohenden Einnahme der Hauptstadt Addis Abeba kann nun zumindest definitiv keine Rede mehr sein. Und womit wohl ebenfalls kaum ein Beobachter gerechnet hatte, war die massive Mobilisierung, die der bewaffnete Konflikt innerhalb Äthiopiens in den sozialen Netzwerken nach sich zog. Unter dem Hashtag #noMore verleiht bei Twitter eine nach wie vor wachsende Anzahl von Usern ihrer Ablehnung gegenüber der demzufolge neokolonialen Einmischung und Einflussnahme in den Konflikt Ausdruck.
Längst handele es sich um einen "afrikanischen Krieg", der auf äthiopischem Boden ausgefochten wird und bei dem erneut vor allem fremde und geopolitische Interessen im Vordergrund stehen. Auch auf den Straßen Washingtons und anderen westlichen Metropolen brachte die äthiopische Diaspora ihren Unmut über die Berichterstattung und eine imperialistische politische Einflussnahme zum Ausdruck.
Der jüngste Präsident Afrikas soll, so die Botschaft, in einem hybrid geführten Krieg von der Macht entfernt werden, da er eine allzu eigenständige und panafrikanisch geprägte Politik verfolgt. Auch das Mega-Projekt des Great Ethiopian Rennaisance Dam (GERD) am blauen Nil – das Äthiopiens wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung weiteren und massiven Auftrieb verleihen soll – ist nach Lesart von #noMore nicht nur den weiteren Nil-Staaten Sudan und Ägypten ein Dorn im Auge.
Zudem gelang es dem äthiopischen Ministerpräsidenten, Frieden mit Eritrea zu schließen (unlängst werden Forderungen laut, ihm im Zuge der militärischen Auseinandersetzungen und der humanitären Situation, den dafür zuerkannten Friedensnobelpreis wieder abzuerkennen) und weitere diplomatische Bemühungen zur Stabilisierung des Horns von Afrika auf den Weg zu bringen. Eine erfolgreiche Balkanisierung Äthiopiens und der Region würde all dem auf unabsehbare Zeit einen Strich durch die Rechnung machen.
In dieser Hinsicht bemerkenswert ist der Besuch des chinesischen Außenministers Wang Yi in Addis Abeba Anfang Dezember – trotz der vermeintlich nach wie vor prekären Situation vor Ort. Yi versicherte der äthiopischen Regierung die volle Unterstützung Bejings. Zudem, so der chinesische Top-Diplomat, lehne China "jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten Äthiopiens ab". Neben Iran, der Türkei und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) unterstützt China Äthiopien ebenfalls durch die Lieferung militärischer Güter, wie etwa Kampfdrohnen.
Auch Moskau schaltete sich immer wieder in die längst als "Bürgerkrieg" bezeichneten militärischen Auseinandersetzungen ein. Anfang Dezember bezeichnete die russische Außenamtssprecherin Maria Zarachowa unter anderem Berichte als falsch, wonach sich Addis Abeba quasi im Belagerungszustand befände. Auch würde der Zugang zu humanitären Hilfslieferungen in den betreffenden Regionen zum aktuellen Zeitpunkt wiederhergestellt.
Es ist daher nicht unbegründet, zu argumentieren, dass Washington durch seine einseitige Parteinahme für die sich nun auf dem Rückzug befindende TPLF einen weiteren taktischen Fehler begangen, vor Ort weiteres Vertrauen verspielt und geopolitisch wertvolles Terrain verloren hat. Doch selbst wenn es Abiy und den äthiopischen Streitkräften gelingen sollte, die TPLF militärisch wieder vollständig in ihre Schranken zu weisen, muss nach dem Krieg der Frieden gewonnen werden. Dabei würde es noch genügend Gelegenheit geben, Äthiopien Steine in den Weg zu legen.
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