Deutscher Neo-Militarismus könnte sich unvorhergesehen verschieben

Im Unterschied zu 1954 begnügt sich das "Wir sind wieder wer" heute nicht mehr mit dem Gewinn einer Fußball-Weltmeisterschaft. Ein Großteil der deutschen Mainstream-Medien jubelt darüber, dass die deutschen Waffenlieferungen in den Nordirak "das Ende der Zurückhaltung, so wie sie in diesem Land über sechs Jahrzehnte sorgsam gepflegt worden ist" bedeuten. 
Allein scheint sich der Zustand der Streitmacht noch von jenem Soll entfernt zu sein, um der neu erwachten Kriegsbegeisterung vom Bundespräsidenten bis zur Springerpresse und den Grünen auch in der Praxis Taten folgen zu lassen. Im Laufe der letzten Woche wurde eine für den Bundestag erstellte Liste der Bundeswehr unter dem Titel "Materielle Einsatzbereitschaft der Streitkräfte" an die Medien gespielt, aus der hervorgeht, dass ein nicht unerheblicher Teil des vorhandenen Kriegsgerätes gar nicht einsatzfähig ist. Das Problem soll Kampfflugzeuge ebenso betreffen wie Hubschrauber, Transportmaschinen und Panzer. Von den 43 Hubschraubern der Marine können demnach bestenfalls fünf verwendet werden, von den 109 Eurofightern nur 42. Und selbst diese Liste soll geschönt sein. Bereits im Zuge der ersten Hilfslieferungen für die Kurden haben sich die Mängel bemerkbar gemacht, was zu langen Verzögerungen  führte. Nach einer Odyssee mit mehreren involvierten Flugzeugen, auf die infolge von Defekten und einer fehlenden Überfluggenehmigung umgestiegen werden musste, dauerte eine Verlegung von sieben Soldaten, Ausbildern und Sanitätern nach Erbil nicht weniger als sechs Tage. Für eine reine Verteidigungsarmee eines Landes, das von keinen Feinden umgeben ist und im Angriffsfall NATO-Beistand in Anspruch nehmen könnte, wäre die Situation ja weniger prekär. Aber in einer Zeit, in der von ganz Oben der vollmundige Ruf zu den Waffen ertönt und man von einer Bundeswehr träumt, die weltweit als Ordnungsfaktor auftritt, erscheint diese Situation als reichlich peinlich. Es kommt der Verdacht auf, ausgerechnet die schwarz-gelben Verteidigungsminister zu Guttenberg und von der Leyen hätten nach der Euro-Hawk-Pleite auch noch am falschen Ende gespart – nämlich bei den Ersatzteilen. Das sollte auch ganz im Sinne der Kanzlerin Merkel sein, an deren Spargesinnung möglicherweise sogar eine zeitnahe Umsetzung der neuen NATO-Direktive scheitern könnte, die Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des BIP zu erhöhen. Es scheint, dass die Wiedergeburt des deutschen Militarismus, lauthals ausgerufen vom Schlossherrn auf Bellevue, zumindest finanziell noch für einige Zeit auf sich warten lässt. Zum Glück.